"NRWlebt.": Wandel, Chancen, Partizipation

Auf dem Globus liegt eine Wippe. Auf ihr balancieren Fahrrad, Haus, Rollstuhl, eine Gruppe Menschen, daneben Baum und Getreide. Das Logo der Aktionsplattform "NRWlebt." ruft eine ganze Reihe von Lebensbereichen auf - solche, zu deren Gestaltung und Weiterentwicklung Politik und Planung gefragt sind. Dass diese Gestaltungsaufgaben umso dringlicher sind, je rapider der gesellschaftliche Wandel ausfällt, ist eine Binsenweisheit. Breit aufgestellt also war und ist die große Aktionsplattform "NRWlebt.", die drei Jahre lang eine Vielzahl von Akteuren und Ideen zusammengeführte.

11. Mai 2017von Dr. Frank Maier-Solgk / Christof Rose

Breit aufgestellt – das gilt auch insofern, als die Beteiligten der Aktionsplattform sich aus Experten und Laien zusammensetzten, aus den Vertretern der planenden Berufe und den betroffenen Menschen: den Alten, für die Barrierefreiheit den entscheidenden Unterschied für Lebensqualität ausmacht; den Migranten, die Heimat finden wollen; Menschen mit kleinem Geldbeutel, die Wohnungen suchen; Kindern und Jugendlichen, für die urbane Freiräume wichtige Erfahrungsräume sind. Die demokratische Idee, viele soziale Gruppen als Beteiligten in die Aktion einzubeziehen, gehört zu den wichtigen Kennzeichen von „NRWlebt.".

Das Projekt fand nun seinen Abschluss in der Nordrhein-Westfälischen Akademie der Wissenschaften und der Künste – in Form einer ebenso unterhaltsamen wie kurzweiligen Revue, die zurückblickte, zugleich aber auch nach vorne, und die die Aktionsfelder in Gestalt der Menschen vorstellte, die mit ihnen zu tun hatten. Was zugleich in präzisen, aber abstrakten Thesen formuliert worden war, wurde in der Veranstaltung anschaulich; und damit auch das, worum es bei dem Projekt ging: um die Verbesserung alltäglicher Lebensqualität.

Politik und Wissenschaft

Michael von der Mühlen, Staatssekretär im NRW-Bauministerium, betonte die Notwendigkeit eines lebendigen Dialogs zwischen Betroffenen und Planern. Zum Beispiel für die Beantwortung der Frage, wie sich innerstädtische Quartiere weiterentwickeln müssten. Hier habe man in den vergangenen Jahren die so genannte Quartiersakademie entwickelt, die partizipativ Lösungen für besonders problematische Stadtquartiere erarbeitet. Ähnlicher Dialogbedarf bestehe zukünftig für ganze Regionen. Einzelne Städte, so von der Mühlen, seien kaum in der Lage, den Wohnungsbedarf allein erfüllen. Notwendig seien integrative Planungskonzepte. Zielsetzung sei hier letztlich die Entwicklung von Agglomerationskonzepte, wie sie beispielsweise in der Schweiz schon Standard seien.

Auf die Politik folgte die Wissenschaft. Prof. Jörg R. Noennig von der Hafencity University Hamburg berichtete von den neuesten Entwicklungen auf dem Feld der vernetzten und digitalisierten Stadt. 50 Milliarden Dinge werden demnächst, so schätzt das IT-Unternehmen Cisco, miteinander verknüpft sein; und mittels Sensoren auch eventuell mit uns selbst. Ob aus dieser Datenflut sich tatsächlich die "gute Stadt" ableiten lassen wird? Noennig ließ die digitale Zukunft ein Stück weit vorstellbar werden. Allerdings, die Frage kann man stellen: Wer nutzt die Daten? Was für den Wissenschaftlicher eine positive Vision darstellt, enthält für viele auch beunruhigenden Seiten.

Oberbürgermeister Thomas Geisel wollte für die boomende Stadt Düsseldorf das dritte Kennzeichen des demografischen Wandels - das Weniger - nicht gelten lassen. In Düsseldorf nehme die Bevölkerung dank guter Beschäftigungsentwicklung kontinuierlich zu. Angesichts dessen sei es die Hauptaufgabe, mehr Wohnungen zu bauen, und zwar möglichst schnell. 3000 neue Wohnungen in jedem Jahr habe man sich zum Ziel gesetzt - auch in Randlagen und zu Preisen, die erschwinglich sein sollen.

Kunsteffekte

"Kunst kann aus Dreck Gold machen", behauptete der Künstler Prof. Bogomir Ecker. Dass dieser Anspruch für manche Kunst im öffentlichen Raum nachvollziehbar ist, bewies die Vielzahl an originellen Beispielen, die Ecker vorstellte. Sie machten deutlich, dass nachhaltige urbane Effekte manchmal nur kleiner künstlerischer Interventionen bedürfen, um desolaten Orten urbane Qualitäten zu entlocken. Auf einem unbebauten, als Parkplatz genutzten Zwischengrundstück in Düsseldorf, dessen historischer Platanenbestand noch niemandem aufgefallen war, ließ Bogomir Ecker kleine rote, wie Brutkästen aussehende Holzboxen in die Bäume setzen. Die Aktion erzeugte Aufmerksamkeit und ließ eine Bürgerinitiative entstehen, der es schließlich gelang, gemeinsam mit Landschaftsplanern und Architekten einen heute viel genutzten Park zu entwickeln.

Blase, Bett und Laptop

BLOON nennt sich ein experimentelles Projekt von Agnes Brigida Giannone und einigen Architekturstudenten der Hochschule Bochum, die gemeinsam der Frage nachgingen, wie Studierende in Zukunft wohnen könnten. Hintergrund ist der akute studentische Wohnungsmangel in Universitätsstädten, aber auch ein sich änderndes Wohnverhalten. Das Team führte Interviews durch, entwarf und realisierte eine transparente Wohnblase aus Kunststoff, die zwischen zwei Hauswände eingespannt und die über eine Leiter durch eine Telefonzelle erschlossen wurde. Eine aufmerksamkeitsstarke, nachts beleuchtete, kostengünstige, wenn auch spartanische Unterkunft entstand, die ein ungewöhnliches Wohngefühl vermittelte. Ein Projekt, das vielleicht auch Modellkraft entfalten könnte, das aber auf jeden Fall als autonomes Kunstwerk durchgehen kann.

Ankommen

Albi Lugjaj ist ein junger Flüchtling, er kommt aus Albanien. Derzeit macht er eine Bäckerlehre in Dortmund, trainiert regelmäßig und träumt von einer Karriere als Fußballprofi beim BVB. Nach dem Gespräch, das die Moderatorin Gisela Steinhauer (WDR) mit ihm und Wolfgang Euteneuer, Projektleiter bei der Stiftung "angekommen", führte, kann man nur hoffen, dass möglichst viele Jugendliche, die nach Flucht und Krieg in Deutschland ankommen, ähnliche positive Erfahrungen machen. Das unter anderem vom Land geförderte Projekt hilft bei der Wohnungssuche, beim Schulabschluss wie bei der Suche nach Lehrstellen, und es bietet Freizeitangebote - die Basics gelingender Integration. Mit Blick auf das Planen und Bauen in NRW wurde in dem Gespräch deutlich, dass für viele Flüchtlinge vor allem ein kleiner eigener Raum, ein bisschen Privatsphäre zu den großen Wünschen und Bedürfnissen gehört.

Eine Erfahrung, die auch die Bewohner des 2009 eröffneten "Pöstenhofs" in Lemgo gemacht haben. Das genossenschaftliche Wohnprojekt wurde teils mit geförderten, barrierefreien Wohnungen, Gemeinschaftsräumen und einer integrierten Tagespflegeeinrichtung realisiert. Wie aber sieht der Alltag aus? Jens Conrad, der mit seiner Familie zu den Bewohnern der ersten Stunde gehört, zog ein positives Resümee. Er empfahl aber, offen zu sein für andere Menschen und bereit zu sein, Konflikte offen zu artikulieren und zu besprechen. Dafür ergeben sich in solchen Wohnprojekten dann aber auch viele Vorteile: Austausch, Hilfe, Kontakt - "und die Kinder haben plötzlich mehrere Großeltern".

Perspektiven für Architekten

Der Blick zurück oder der Blick voraus machte auch im Schlussvortrag von Tim Rieniets, Geschäftsführer der Landesinitiative StadtBauKultur NRW, den Unterschied aus. Das heutige Verständnis der Architekten von ihrer Disziplin sei, so Rieniets, entstanden und teilweise noch immer geprägt von der Idee des Wachstums: Vom Wachstum der Bevölkerung und der Rohstoffe, die scheinbar endlos zur Verfügung stünden. Dergleichen ändere sich nicht von einem auf den anderen Tag.

Aber: Gerade gesellschaftliche Wandlungsprozesse, wie sie die derzeitigen demografischen Veränderungen mit sich bringen, eröffneten Chancen mit einem neuen, vielseitigen Aufgabenfeld. Sei es die Umwidmung der vielen leerstehenden Kirchen im Lande, die Umnutzung von Ladenlokalen, die Neunutzung von ehemaligen Kaufhäusern oder aber die Revitalisierung leerstehender Wohnungen in schrumpfenden Regionen. Rieniets' Aufforderung war ein gutes Schlusswort: Die Wandlungsprozesse sollte man nutzen, auch über das Selbstverständnis der eigenen Disziplin nachzudenken.

Thesen zum Planen und Bauen im demografischen Wandel

  1.  Der demografische Wandel muss in großer Breite gesellschaftlich diskutiert werden. Kurzfristig intervenierende Phänomene werden die grundsätzliche Entwicklung nicht maßgeblich verändern.
  2. Der barrierearme Umbau unserer gebauten Umwelt ist eine zentrale Aufgabe, die gesellschaftlich gewollt, politisch gestützt und in der Planungspraxis konsequent berücksichtigt werden muss. Mehrkosten, die durch den Anspruch auf Inklusion entstehen, müssen entsprechend gesellschaftlich getragen werden.
  3. Lebenswerte Städte sind fußgängerfreundlich. Das Fahrrad muss in Städten und Quartieren eine echte Alternative zum Autoverkehr werden – insbesondere in den Wachstumsstädten unseres Landes. Der ÖPNV muss für alle Bevölkerungsgruppen zugänglich sein.
  4. Der Rückbau von nicht mehr benötigtem Wohn- und Gewerberaum muss als Chance für die Entwicklung neuer, auch gemeinnütziger Qualitäten genutzt werden. Mehr Grün bedeutet mehr Le-bensqualität und stärkt die Identifikation der Bürger mit ihrer Stadt.
  5. Das Wohnen ist für die zu uns kommenden Menschen der direkte Weg in die Gesellschaft. Für eine gelingende Integration muss auf verschiedenen Ebenen parallel gearbeitet werden: strukturell, kulturell und sozial. Quartiere und Viertel müssen Schutz bieten, aber auch Kontaktflächen offerieren, damit ein Austausch gelingen kann.
  6. Wir brauchen mehr Innovationskraft im urbanen Wohnungsbau. Die Vielfalt der Gesellschaft muss ein differenzierteres Angebot auf dem Wohnungsmarkt nach sich ziehen. Entsprechende Ansätze müssen mit steuerlichen Anreizen unterstützt werden. 
  7. Angesichts der dramatisch schrumpfenden Zahl von Sozialwohnungen muss die Wohnungsbauförderung in NRW auf dem aktuell hohen Niveau gehalten werden. Die starken Wohnungsunternehmen müssen in die Pflicht genommen werden, ihrer großen sozialen Verantwortung gerecht zu werden. Zusätzlich sollte mit einer breit angelegten Imagekampagne für die Qualitäten des geförderten Wohnungsbaus geworben werden.
  8. Wer sich zukunftsfähig aufstellen will, muss Probleme offen ansprechen und Instrumente entwickeln, um Bürgerinnen und Bürger zu aktivieren. Jenseits einzelner Fördermaßnahmen oder von Leuchtturmprojekten stärkt ein kooperatives Engagement von Eigentümern und Anwohnern die Identifikation mit dem Ort. So entstehen Standortqualität, Mut für Unternehmungen, Zuversicht für Investitionen und Vertrauen darauf, dass Dörfer und Kleinstädte durch interkommunale Vernetzung und Zusammenarbeit zukunftsfähig aufgestellt werden können.

Vorträge

Prof. Dr. Jörg R. Noennig: Smart City, Smart Homes, Smart People - Was brauchen die Gesellschaft und die Stadt von morgen?

Prof. Bogomir Ecker: Öffentlichkeit braucht Raum

Agnes Brigida Giannone und Studierende der HS Bochum: Project BLOON

Tim Rieniets: Architektur im (demografischen) Wandel

Weitere Informationen

Diese Thesen sowie alle Themen aus drei Jahren "NRWlebt." finden Sie auch in diesem Thesenpapier, das Sie kostenlos downloaden oder in gedruckter Form bestellen können. 

Einen Videorückblick zu drei Jahren "NRWlebt." finden Sie im Youtube-Kanal der Architektenkammer NRW.

Pressemitteilung zur Abschlussveranstaltung "NRWlebt. - Wie lebt NRW morgen?"

Teilen via