Regionalkonferenz "Inklusiv gestalten!": Mentale Infrastrukturen verändern!

„Menschen sind nicht behindert, sie werden behindert. Wenn wir diese Erkenntnis ins Bewusstsein einer breiten Öffentlichkeit vermitteln, sind wir einen großen Schritt weiter.“ Verena Bentele, die Beauftragte der Bundesregierung für die Belange von Menschen mit Behinderungen, brachte ihr zentrales Anliegen mehrfach ebenso eindringlich wie eindrucksvoll auf den Punkt. Am 16. März diskutierten rund 200 Architekten und Stadtplaner in Duisburg auf der dritten Regionalkonferenz „Inklusiv gestalten“ über „Ideen und gute Beispiele aus Architektur und Stadtplanung“. Ein Thema, das zwar bekannt ist, das aber noch lange nicht in ausreichendem Maße in der Planungs- und Baupraxis umgesetzt wird.

17. März 2017von Christof Rose

„Unsere gebaute Umwelt muss und kann barrierefreier werden“, erklärte auch Ernst Uhing, der Präsident der Architektenkammer Nordrhein-Westfalen, in seinen einführenden Worten. Es gehe heute nicht mehr darum, ob wir eine gebaute Umwelt ohne Barrieren wollen, sondern wie wir diese erreichen können.
Die von der ZDF-Sportjournalistin Katrin Müller-Hohenstein moderierte Veranstaltung, zur der die Architektenkammer NRW in Kooperation mit der Bundesarchitektenkammer und der Bundesbehindertenbeauftragten eingeladen hatte, wollte dementsprechend informieren, aufrütteln und das Bewusstsein für die Herausforderungen schärfen, welche der Anspruch auf eine inklusive Gesellschaft mit sich bringt.

Inklusion 2037: Chancen und Herausforderungen

„Unsere Gesellschaft wird nur zukunftsfähig sein, wenn es uns gelingt, Menschen mit Handicap eine möglichst vollständige Teilhabe am gesellschaftlichen Leben zu ermöglichen. Daran führt in einer alternden Gesellschaft kein Weg vorbei.“ Der Soziologe Dr. Gereon Uerz von „Arup Foresight“ aus Berlin ließ in seinem Impulsvortrag keinen Zweifel an der Dringlichkeit des Tagungsthemas. Weltweit sei jeder siebte Mensch betroffen - aktuell rund eine Milliarde Menschen.

In den entwickelten Industrienationen müsste es alten Menschen zwingend ermöglicht werden, auch mit Bewegungseinschränkungen oder fortschreitenden Krankheitsverläufen in ihren Wohnungen und Häusern zu bleiben und den öffentlichen Raum nutzen zu können. „Allein in Großbritannien beziffern die Krankenkassen die Kosten, die durch Stürze älterer Menschen verursacht werden, auf mehr als eine Milliarde Pfund.“ Wenn man zusätzlich bedenke, wie viele Heimplätze nicht gebaut und betrieben werden müssen, wenn alte Menschen zuhause bleiben können, zeige sich sehr schnell: Barrierefrei zu bauen, rechnet sich.

In seinem Szenario „Inklusion 2037“ zeigte sich Dr. Uerz insgesamt optimistisch. Die große Zahl von Menschen, die selber oder in ihrem Umfeld mit körperlichen Einschränkungen umgehen müssten, werde dazu führen, dass Unternehmen das Thema als lukratives Aufgabenfeld entdecken. „Ich setze auf den Markt - und auf den technologischen Fortschritt.“ Nach Prognosen werde vor allem das „Internet der Dinge“ dazu beitragen, dass Älteren oder Menschen mit Behinderungen mit Unterstützung technischer Hilfsmittel mehr Teilhabe ermöglicht werde. Der Berliner Soziologe betonte aber auch, dass Inklusion nicht in erster Linie eine Frage von Technik und baulicher Barrierefreiheit sei, sondern durch ein konstruktives Miteinander von Menschen mit und ohne Behinderungen geprägt werden müsse.

Lernen am gebauten Beispiel

Wie Inklusion im Alltag umgesetzt und gelebt werden kann, zeigte der Veranstaltungsort der Regionalkonferenz in Duisburg: „Der kleine Prinz“ ist ein inklusives Tagungs- und Veranstaltungszentrum (Architektur: Knipping Architekten, Bochum), das nicht nur baulich alle Anforderungen an Barrierefreiheit erfüllt, sondern auch im Veranstaltungsmanagement und in seinem öffentlichen Restaurant Menschen mit und ohne Behinderungen zusammenbringt - und als Angestellte beschäftigt.

WIR wohnen anders

Weitere Best-Practice-Beispiele aus NRW bildeten den zweiten inhaltlichen Schwerpunkt der Tagung. Norbert Post stellte für den Bereich Wohnen das inklusive und generationenübergreifende Projekt „WIR wohnen anders - Dortmund-Brünninghausen“ vor. Hier entwickelten Menschen unterschiedlichen Alters ein genossenschaftliches Wohnprojekt, das mehr Lebensqualität durch eine lebendige Nachbarschaft anstrebt. Gemeinschaftsräume, Begegnungsflächen in den Laubengängen und im Innenhof, das Küchenfenster als Ort des Austausches: „Es sind ganz einfache Prinzipien, die dazu führen, dass die Menschen gerne zusammenleben und sich geborgen fühlen“, resümierte Norbert Post. Sein Büro postwelters/partner mit Sitz in Dortmund und Köln hat schon mehrere gemeinschaftsorientierte Wohnprojekte realisiert. „Wir betrachten Architektur im Kern als soziales Netzwerk.“

Inklusion im Quartier

Wie ein ganzes Quartier von einem inklusiven Konzept profitieren kann, zeigte der Aachener Architekt Frank Riedel (pbs architekten) am Beispiel des „Kirschblüten Carré“ in Hürth. Hier entstanden mehrere dreigeschossige Wohnbauten mit Staffelgeschoss, die insgesamt 94 Wohneinheiten und zwei Wohngruppen umfassen. Eine Wohngrupe wurde speziell für sieben Menschen mit Beatmungsbedarf geschaffen, eine weitere als WG für junge Rollstuhlfahrer konzipiert. Hier wohnt eine „Verselbstständigungsgruppe“: Studentinnen und Studenten, die gemeinsam eine selbstständige Lebensführung einüben. Auch viele junge Familien leben in dem neuen Carré. „Für die Kinder ist es ganz normal, schwerstpflegebedürftige Menschen als Nachbarn zu haben oder mit den jungen Leuten im Rollstuhl zu spielen“, stellte Frank Riedel heraus. Ein Handicap als Normalität zu erleben, sei ein Schlüssel für eine umfassende Inklusion - darin waren sich alle Teilnehmer der Veranstaltung einig.

Freiräume ohne Barrieren

Nicht nur die Barrierefreiheit in der Wohnung gehört zu einem Leben in Teilhabe, sondern auch die umfängliche Nutzbarkeit des öffentlichen Raumes. Gelungene Beispiele für Garten- und Platzgestaltungen stellte Alexander Nix vor. Mit seinem Büro „Contur 2“ in Bergisch-Gladbach realisiert der Landschaftsarchitekt seit vielen Jahren Gärten an Schulen und Kindertagesstätten, die auch Kindern mit Behinderungen ein Mitspielen ermöglichen. In Altenheimen plant Nix regelmäßig „Demenzgärten“, die so angelegt sind, dass demente Menschen nicht die Orientierung verlieren, überall Halt finden und zusätzliche Anregungen und Impulse empfangen. „Wir planen alle Anlagen so, dass sie sowohl Menschen mit Beeinträchtigungen als auch ihren Angehörigen und anderen Besuchern gefallen.“ Es könne nachgewiesen werden, dass derart gestaltete Gärten die Besuchsfrequenz in Heimen erhöhe - und die Verabreichung von Psychopharmaka reduziere.

Bewusstseinsbildung und politische Flankierung  

Wie ein roter Faden zog sich durch alle präsentierten Beispiele die Aussage, dass das soziale Miteinander von Menschen mit und ohne körperlichen Beeinträchtigungen im Zentrum gelingender inklusiver Prozesse stehe. „Da wir das aber nicht erzwingen können, müssen wir mit politischen Maßnahmen und gesetzlichen Vorgaben Schützenhilfe leisten“, machte Verena Bentele in der Abschlussdiskussion ihre Haltung klar. „Im Prinzip ist ja niemand gegen eine möglichst barrierefrei gestaltete Umwelt. Aber: Es gibt weiterhin zu wenig passende Wohnungen und zu viele Hindernisse im öffentlichen Raum. Das Umdenken muss weitergehen.“

Dr. Christian Schramm, Vizepräsident der Architektenkammer Nordrhein-Westfalen, stimmte Frau Bentele zu, verwies aber auf die bestehenden gesetzlichen Vorgaben. Im öffentlichen Bereich hätten wir schon lange die uneingeschränkte Barrierefreiheit. „Wir sollten generell alle Wohnungen barrierefrei gestalten“, erklärte Christian Schramm. Die AKNW halte allerdings den „R-Standard“ für überzogen; hier werde der Markt regulierend wirken. Der Vizepräsident der Architektenkammer NRW zeigte sich zuversichtlich, dass die Architektinnen und Architekten, Innenarchitekten, Landschaftsarchitekten und Stadtplaner das Thema offensiv annähmen und immer wieder neue kreative Lösungen entwickelten. „Im Neubaubereich geht das weitgehend problemlos. Im Bestand muss man allerdings im Einzelfall abwägen, was möglich ist“, betonte Dr. Schramm.

Auch Architekt Dirk Michalski aus Neunkirchen-Seelscheid stellte in der Diskussion fest, dass das Bewusstsein für die Thematik bei Planern und Auftraggebern in den letzten Jahren gewachsen sei. Er beobachte aber oftmals einen Konflikt zwischen dem Wunsch nach pragmatischen baulichen Lösungen zur Verminderung von Barrieren und dem Anspruch auf hohe gestalterische Qualität. „Hier sind wir alle noch gefordert“, appellierte Michalski an die Kolleginnen und Kollegen im Saal.

Mareike Schimmelpfennig, die auf dem Podium die erkrankte NRW-Landesbehindertenbeauftrage Elisabeth Veldhues vertrat, betonte die Vorbildwirkung guter Beispiele. „Wir müssen weiter an der Bewusstseinsbildung arbeiten. Dazu können überzeugende Best-Practice-Beispiele ebenso beitragen wie öffentliche Diskussionen wie die heutige.“ Eine Einschätzung, die der Soziologe Dr. Gereon Uerz teilte. „Weitermachen! Wir müssen hier mentale Infrastrukturen verändern. Das braucht Zeit und Engagement.“

In seinem Fazit zu der lebendigen Veranstaltung im „Kleinen Prinzen“ in Duisburg stellte Martin Müller, AKNW-Vorstandsmitglied und Vizepräsident der Bundesarchitektenkammer, fest, dass Inklusion mehr sei als Barrierefreiheit. Es gehe um einen umfassenden Abbau von Barrieren, „im öffentlichen Raum und in den Köpfen“. Der Weg sei eingeschlagen: „Es entsteht ein Anspruch, und es entsteht ein Markt.“ Die deutsche Architektenschaft werde weiter daran arbeiten, dass Inklusion zum gesellschaftlichen Grundkonsens und zum Normalfall werde.

 

Interview: „Wir brauchen Ihre Unterstützung!“

Verena Bentele, gemeinsam mit den Architektenkammern bestreiten Sie vier Regionalkonferenzen zum Thema „Inklusiv gestalten“. Was wollen Sie damit erreichen?
Den Architekten und Stadtplanern kommt eine ganz entscheidende Rolle auf dem Weg zu einer inklusiven Gesellschaft zu. Sie gestalten unsere Umwelt künstlerisch, aber auch technisch. Mit dieser Veranstaltung suche ich den Austausch, will aber zugleich auch das Bewusstsein für die gesellschaftliche Dimension des Themas Barrierefreiheit schärfen. Und ich hoffe, dass Architektinnen und Architekten sich in diesem Feld intensiv weiterbilden, Kunden entsprechend beraten und kreativ-gestalterisch tätig werden.

Wo sehen Sie aktuell den dringlichsten Handlungsbedarf?
Es gibt noch viel zu viele Barrieren an Bauwerken. Um allen Menschen mit Behinderungen, alten Menschen und Familien Teilhabe zu ermöglichen, sollten wir Barrierefreiheit auch im privaten Bereich mehr zur Pflicht als zur Kür machen. Handlungsbedarf besteht ganz ohne Zweifel zudem im öffentlichen Raum, auf Straßen, Plätzen und im öffentlichen Personennahverkehr. Das ist ein Bereich, an den wir noch einmal strukturell ranmüssen.

Glauben Sie, dass die Gesellschaft das Thema Inklusion angemessen vorantreibt?
Im Prinzip sind ja alle für Inklusion. Jetzt ist jedoch entscheidend, dass genügend Ressourcen investiert werden und dass es noch mehr Berührungspunkte von Menschen mit und ohne Behinderungen gibt. Nur so machen alle die Teilhabe und Vielfalt in einer Gesellschaft zu ihrem Thema. Wir brauchen viel mehr Begegnung im Alltag, im Bildungsbereich, am Arbeitsplatz. Dann wird eine Gesellschaft von innen heraus Farbe zur Inklusion bekennen.

Was wünschen Sie sich von den Architektinnen und Architekten?
Viele weitere tolle Projekte und Bauten wie die, die auf unseren Regionalkonferenzen vorgestellt werden. Diese Bauvorhaben verbinden Barrierefreiheit mit Ästhetik, genau davon brauchen wir mehr. Trauen Sie sich, innovativ und kreativ zu denken und zu handeln und beziehen Sie Menschen mit unterschiedlichen Bedürfnissen von Anfang an ein. Und ich glaube, dass das „Inklusive Gestalten“ grundsätzlich eine größere Rolle in der Ausbildung Ihres Berufsnachwuchses spielen sollte. Interview: Christof Rose

Lesen Sie hierzu auch:

- Vortrag „WIR wohnen anders - Dortmund-Brünninghausen“ von Norbert Post (PDF - 6,5 MB)

- Vortrag "Freiräume ohne Barrieren" von Alexander Nix (PDF - 6,3 MB)

- Vortrag "Stadtquartier „Kirschblüten Carré in Hürth“ von Frank Riedel (PDF - 4 MB)

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