Barrierefreiheit grundsätzlich mitdenken!

Barrierefreiheit weiter zu denken als Bedingung gesellschaftlichen Zusammenhalts: Das stand als große Überschrift über der Regionalkonferenz „Inklusiv gestalten – Ideen und gute Beispiele aus Architektur und Stadtplanung“, veranstaltet vom Beauftragten der Bundesregierung für die Belange von Menschen mit Behinderungen, Jürgen Dusel, der Bundesarchitektenkammer und der Architektenkammer Nordrhein-Westfalen. Mit in der Spitze 680 Teilnehmerinnen und Teilnehmern stieß die online-Veranstaltung auf eine außerordentliche Resonanz. Vorgestellt und diskutiert wurden aktuelle Beispiele aus Nordrhein-Westfalen von barrierefreier und inklusiver Gestaltung im Gesundheitswesen, quartiersbezogener Wohnungsbau und inklusive Ziele im städtischen Außenraum.

19. Januar 2021von Christof Rose

In Deutschland leben rund 13 Millionen Menschen mit Beeinträchtigungen. „Etwa jeder sechste in der Bevölkerung ist unmittelbar betroffen“, stellte Bundesbeauftragter Jürgen Dusel einführend klar. Und nur etwa drei Prozent dieser Menschen würden bereits mit ihrem Handicap geboren. Es gehe deshalb um die Frage, wie wir miteinander umgehen wollen und in welchem Land wir leben wollen.
„Demokratie braucht Inklusion“, so das Motto, das sich Jürgen Dusel für seine Amtszeit gegeben hat. An die Architektinnen und Architekten gewandt sagte der Bundesbehindertenbeauftrage: „Sie gestalten unser Land, Sie werden zur Umsetzung dieses demokratischen Ziels gebraucht und sind gefordert.“ Umgekehrt gelte: „Barrierefreies Planen und Bauen ist heute zeitgemäß und in vielen Bereichen zu Recht Standard. Wer heute noch Barrieren baut, der arbeitet unprofessionell, der macht etwas falsch.“ Nur barrierefreier Wohnungsbau sei auch sozialer Wohnungsbau, damit auch Menschen, die älter und gebrechlicher werden, in ihren Wohnungen verbleiben können.

Recht auf Zugänglichkeit

Der Fokus der „Regionalkonferenz Inklusiv gestalten“, die live aus dem Haus der Architekten in Düsseldorf gestreamt wurde, lag auf der kritischen Betrachtung des Gesundheitssektors. Die aktuelle Pandemie wirke wie ein Brennglas für das Thema, denn jeder und jede verspüre gegenwärtig, wie es ist, sich nicht mehr wie gewohnt bewegen und kommunizieren zu können, hatte Moderatorin Katrin Müller-Hohenstein (ZDF) einführend bemerkt und unterstrichen, dass vor allem eine allgemeine Bewusstseinsbildung für das Themenfeld notwendig sei. „Die Regionalkonferenzen der deutschen Architektenkammern tragen entscheidend dazu bei.“
Dem pflichtete der Bundesbeauftragte für die Belange von Menschen mit Behinderungen bei. Zum Tagesthema verwies Jürgen Dusel  auf die paradoxe Situation, dass ausgerechnet im Gesundheitsbereich das Recht auf freie Arztwahl faktisch beschränkt sei. Die wenigsten ärztlichen Praxen könnten angeben, zumindest teilweise barrierefrei zu sein. „Das ist ein Qualitätsproblem im Gesundheitsbereich und definitiv nicht akzeptabel“, so Jürgen Dusel. „Die Ärztinnen und Ärzte sollten stärker in die Pflicht genommen werden, auch bei der Übernahme bereits bestehender Praxen. Darüber hinaus wünsche ich mir ein finanzielles Förderprogramm für den barrierefreien Umbau ärztlicher Praxen. Überall in jedem Bereich gilt: Barrierefreiheit ist keine Nettigkeit, sondern ein Menschenrecht – und darüber hinaus auch ein Wettbewerbsvorteil.“

Intelligente Planung spart spätere Kosten

„Eine gebaute Umwelt ohne Barrieren kommt allen Bürgerinnen und Bürgern zugute“, ergänzt Ernst Uhing, der Präsident der Architektenkammer Nordrhein-Westfalen. Eine entsprechend vorausschauende Planung könne im Neubaubereich bereits große Fortschritte erzielen. „Eine Herausforderung bleibt die Überarbeitung unserer bestehenden Gebäude.“ Hier seien Eigentümer und Investoren gefordert, dass Ziel „Barrierefreiheit“ konsequent in allen Projekten der Bestandsarbeit zu berücksichtigen. „Letztendlich geht es darum, auch die Barrieren in den Köpfen abzubauen“, betonte der Präsident der größten deutschen Architektenkammer.
Die Mitglieder der Architektenkammer Nordrhein-Westfalen griffen das Thema umfassend auf und verstünden es, die oftmals widersprüchlichen Interessen von Menschen mit unterschiedlichen Behinderungen in einer integrierten Planung zusammenzuführen. Uhing betonte, dass das barrierefreie Bauen - von Anfang an geplant - keine zusätzlichen Kosten verursachen müsse. Ganz im Gegenteil sei der Aufwand für nachträgliche Ein- und Umbauten erheblich höher.

Bewusstseinsbildung durch Corona?

Die Corona-Pandemie trage aktuell dazu bei, einer breiten Bevölkerung ein Gespür dafür zu vermitteln, wenn plötzlich Sinne eingeschränkt, die Bewegungsfreiheit reduziert und Kommunikation erschwert würde, sagte die nordrhein-westfälische Beauftragte für die Belange von Menschen mit Behinderung und für Patient*innen, Claudia Middendorf. Das Gesundheitssystem insgesamt stehe auf dem Prüfstand, in diesem Bereich gebe es noch viele Mängel. So laufe gegenwärtig auch die Einrichtung von Impfzentren in der Regel ohne Berücksichtigung von Barrierefreiheit ab.
Nach Einschätzung von Jürgen Dusel steht in Deutschland die fachliche Kompetenz für die umfassende Realisierung von Barrierefreiheit in hohem Maße zur Verfügung; „was fehlt, ist das Problembewusstsein“. Es müsse vermittelt werden: „Barrierefreiheit ist mehr als die Rampe vor dem Haus!“
„Ich wünsche mir, dass Menschen mit Behinderungen stärker mitgenommen werden und in die Mitte der Gesellschaft integriert werden. Dazu gehört auch die stadträumliche Integration, überall in unseren Kommunen“, sagte Prof. Dr. Susanne Schwalen von der Ärztekammer Nordrhein.
„Gesundheit inklusiv gestalten“ lautete das Thema des Impuls-vortrags von Prof. Dr. Elisabeth Wacker, Diversitätssoziologin an der TU München. Die körperlichen Beeinträchtigungen nähmen mit dem Alter sukzessive zu; bei den Über-80jährigen sei jeder zweite davon betroffen. Natürlich sei es eine große Herausforderung, auf die ganz unterschiedlichen Bedürfnisse von Menschen mit ganz verschiedenen Handicaps einzugehen. Diese „Superdivisität“ enthalte auch viele Diskriminierungsrisiken. „Damit umzugehen, ist aber unser Kulturverständnis und auch das, was die rechtlichen Grundlagen uns als Gesellschaft aufgeben“, betonte die Soziologin.

Überzeugende Praxisbeispiele aus NRW

„Diagnose Inklusion“ nannte Sylvia Leydecker aus Köln ihren Impuls. Die Innenarchitektin und Autorin verwies auf Problemfelder, die sie in der Gestaltung von Projekten im Gesundheitsbereich immer wieder angetroffen hatte. Den Auftraggebern seien die Herausforderungen in der Regel klar, es entstünden aber vielfältige Zielkonflikte. Diese bestünden etwa zwischen taktilen Leitsystemen und Stolperschutzanforderungen, aber auch zwischen Akteuren (Innenarchitektin - Fachingenieur). „Wir sitzen oft mit Riesennutzerrunden am Tisch, und jeder hat andere Interessen. Diesen Spagat zu meistern, ist für uns als Planerinnen und Planer eine echte Challenge“, resümierte Sylvia Leydecker. Notwendig sei, dass die Planerseite entsprechende Lösungen und Planungstools anbieten könne und dass insgesamt das Bewusstsein für notwendige Systeme gesteigert werde (Beispiel: Lichtsignalanlagen für Taube und Hörbehinderte nicht nachträglich anbringen, sondern von vornherein einplanen).

Baugruppe junger Menschen mit Handicap

Architekt Sven Grüne stellte das Inklusionsprojekt „Wohnen im Ort“ (WiO) vor. „Inklusion meint insbesondere auch die Gestaltung von Räumen und Zwischenräumen, welche die unter-schiedlichen Bedürfnisse von Menschen bedienen können“, stellte Grüne heraus. Das Gemeinschaftswohnprojekt WiO in Dortmund bietet jungen Menschen mit verschiedenen Behinderungen in einer Bauherrengemeinschaft individuelle Wohnungen für ihre jeweils spezifischen Bedürfnisse. Das Projekt wird von dem Büro Post-Welters Architekten Stadtplaner (Dortmund/Köln) in einem partizipativen Verfahren mit den künftigen Bewohnern und den Familien der jungen Bauherren realisiert.

Neugestaltung der City Warburg

Ein städtebauliches Beispiel präsentierte Prof. Irene Lohaus (Lo-haus Carl Köhlmos, Hannover) mit der Umgestaltung der Innenstadt von Warburg. Bei der Sanierung und barrierefreien Gestaltung des öffentlichen Raumes der City seien die Prinzipien Zonierung, Schwellenlosigkeit, Kontrastierung, das Prinzip Einheitlichkeit und Durchgängigkeit sowie die Transparenz des Planungsprozesses berücksichtigt worden. Wichtig sei, dass ein Konzept entwickelt werde, das in der Realisierung durchgehalten werden könne. Denn der Nutzer bzw. die Nutzerin des Stadtraums müsse die Chance erhalten, das Prinzip intuitiv zu erkennen und sich entsprechend in stadträumlichen Zusammenhängen zu orientieren.

Rechtsanspruch auf Inklusion

In der abschließenden Diskussion unterstrich der Bundesbeauftragte für die Belange von Menschen mit Behinderungen, Jürgen Dusel, dass man Inklusion nicht verordnen könne. „Es muss in der Bevölkerung und damit auch bei den Entscheidern das Bewusstsein dasein, dass es einen Rechtsanspruch auf Inklusion gibt - und dass die Gesellschaft davon einen Mehrwert hat.“ Für den Sozialverband Deutschland (SoVD) NRW erklärte Dr. Michael Spörke, dass die gesetzlichen und untergesetzlichen Vorgaben nach Auffassung der Sozialverbände noch nicht ausreichten, um eine umfassend barrierefreie Umwelt zu schaffen. Der Präsident der Architektenkammer Nordrhein-Westfalen, Ernst Uhing, nahm dies zum Anlass, um den Wunsch der Architektenschaft zu unterstreichen, dass rechtliche Anforderungen an die Barrierefreiheit rechtsicher und eindeutig sein müssen, um für alle Anwender*innen und Nutzer*innen zielführend sein zu können. „Eine inklusive Umwelt ist das gemeinsame Ziel.“

Paradigmenwechsel zu mehr Barrierefreiheit

Der nordrhein-westfälischen Landesregierung sei das Ziel der Barrierefreiheit ein bedeutendes Anliegen, bekräftigte Dr. Thomas Wilk. „Mit der seit gut zwei Jahren geltenden neuen Landesbauordnung haben wir einen Paradigmenwechsel hin zu mehr barrierefreiem Wohnraum vorgenommen“, erklärte der Abteilungsleiter des Ministeriums für Heimat, Kommunales, Bau und Gleichstellung des Landes NRW. Während vorher Wohnungen lediglich barrierefrei von außen erreichbar sein mussten, müssten sie nun auch in bestimmten Umfang auch innen barrierefrei nutzbar sein. Hier gehe es um den Abbau von wesentlichen Hindernissen für alle Formen der Beeinträchtigungen, also für Geh-, Seh- und Hörgeschädigte. „Dies haben wir zudem erstmalig verbindlich festgeschrieben durch die Einführung der betreffenden technischen Baubestimmungen bzw. DIN. Außerdem flankieren wir dies über finanzielle Fördermöglichkeiten für den barrierefreien Umbau“, so Thomas Wilk.
„In der gebauten Umwelt gibt es weiterhin noch viele Barrieren, für die insbesondere wir als Architekten gefragt sind, kreative und intelligente Lösungen zu finden“, erklärte Martin Müller, Vi-zepräsident der Bundesarchitektenkammer, in seinem Resümee der Regionalkonferenz Inklusiv gestalten. „Wir müssen mutig, durchaus kostenbewusst, und oftmals experimentell planen, um mit guten Beispielen Barrieren in den Köpfen abzubauen und den Weg zu einer inklusiven Umwelt maßgeblich mitzugestalten.“

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