Kommentar: Unser aller Aufschrei ist überfällig!

Kommentar: Unser aller Aufschrei ist überfällig!

"Die Bauwirtschaft in Deutschland, einst der größte Wirtschaftszweig und Konjunkturmotor, wird mit immer größerer Geschwindigkeit gegen die Wand gefahren. Obwohl wir die niedrigste Eigentumsquote in Europa haben, wird den Bürgern der Erwerb von Wohnungseigentum zunehmend erschwert. Jeden Tag, so scheint es, gebiert die Politik etwas Neues, um den Baumotor abzuwürgen, um unsere bewährten Strukturen und Werteordnungen zu eliminieren." Bemerkungen zu den Fehlentwicklungen in der Bau- und Mittelstandspolitik von AKNW-Vizepräsident Alfred Schlüter.

16. Juli 2003

Bemerkungen zu den Fehlentwicklungen in der Bau- und Mittelstandspolitik

Alfred Schlüter

Liebe Kollegin,
lieber Kollege!

„Ich an Ihrer Stelle würde ein großes Geschrei anstimmen!" - Das rief uns Architektinnen und Architekten der damalige Bundeskanzler Helmut Schmidt anlässlich des nordrhein-westfälischen Architektentages 1976 in Duisburg zu. Die Tagung stand unter dem beziehungsreichen Titel: „Mensch und Rendite.“

Damals wie heute bangten wir um den Bestand der Architekturbüros und der Arbeitsplätze und wiesen warnend auf die zu erwartenden Konsequenzen aus der einsetzenden Stadtflucht hin.

Geändert hat sich in all den Jahren nichts, im Gegenteil. Nach der Wiedervereinigung hatte die Politik nichts Eiligeres zu tun, als Gelder in Abschreibungsprogramme zu pumpen, die „blühende Landschaften“ ermöglichen sollten. Heute werden Leerstände in den Plattenbauten beklagt, die auf diese falsche Förderpolitik zurückgehen.

Parallel zu dieser Fehlentwicklung bzw. - um es genauer zu formulieren - Fehlinvestition sind öffentliche Gebäude in sträflicher Weise vernachlässigt worden. Unsere Innenstädte haben an den Fördermilliarden nicht partizipiert, die Kindergärten und Schulen verfallen, Schwimmbäder und Büchereien werden geschlossen.

Was lässt sich Politik nun wieder einfallen? Statt die Qualität der Städte und Gemeinden zu steigern, das Bauen im Bestand zu fördern und attraktive Lebensräume zu schaffen, vorhandene Infrastruktur und historisch gewachsene Umgebung zu erstrebenswerten Wohn- und Arbeitsquartieren zu entwickeln, wird die Eigenheimzulage gestrichen.

„ Portugiesische Verhältnisse“ will der Bundeswirtschaftsminister einführen: hohe Selbständigenquote – über sogenannte "Ich AGs" - bei schlechter Ausbildung und geringen Einkünften.

Die „Verdingungsordnung für Bauleistungen“ (VOB) wird wohl als nächstes Regelwerk fallen, und damit der Korruption und einem mörderischen Preiswettbewerb Tür und Tor geöffnet. Die Honorarordnung für Architekten und Ingenieure (HOAI) ist schon in den Köpfen einiger Politiker zugunsten einer unverbindlichen Vergütungstabelle geopfert. Damit wird nicht mehr die geistig-schöpferische Leistung honoriert, sondern durch Dumpingpreise Minderleistung provoziert.

Die Bauwirtschaft in Deutschland, einst der größte Wirtschaftszweig und Konjunkturmotor, wird mit immer größerer Geschwindigkeit gegen die Wand gefahren. Obwohl wir die niedrigste Eigentumsquote in Europa haben, wird den Bürgern der Erwerb von Wohnungseigentum zunehmend erschwert.

Jeden Tag, so scheint es, gebiert die Politik etwas Neues, um den Baumotor abzuwürgen, um unsere bewährten Strukturen und Werteordnungen zu eliminieren. Kaum jemand registriert, dass uns ständig und in zunehmenden Maße Lebens- und Arbeitsqualität genommen werden. Nicht die Modernisierung der Handwerksordnung steht auf der Agenda, sondern die Simplifizierung.

Die bewährten Grundsätze der Freien Berufe, ihre Stellung und Verantwortung in der Gesellschaft - das sind inzwischen offenbar lästige, angeblich verkrustete und überflüssige Strukturen, die dem freien Handel im Wege stehen. Auch ihre Honorarordnungen behindern nach Auffassung unseres Bundeswirtschaftsministers nur den Wettbewerb. Das Ziel scheint eine Hinführung zum orientalischen Basar zu sein!

Wie hatte der seinerzeitige nordrhein-westfälische Ministerpräsident Wolfgang Clement noch zum 30-jährigen Jubiläum der Architektenkammer NW geschrieben: "…dass anspruchsvolle Architektur und Stadtplanung unverzichtbar sind, wenn wir unser Land lebenswert gestalten wollen.“ Aber da gab es ja mal einen namhaften Mann, der dazu wieder gesagt hätte: "Was stört mich mein Geschwätz von gestern!“

Kein hochrangiger Politiker verabsäumt es, öffentlich zu erklären, wie wichtig die Förderung der Baukultur sei. Wird das Bestand haben, wenn gewachsene und bewährte Strukturen in unserem Land dermaßen ausgehöhlt werden, wie das jetzt offensichtlich überall geschehen soll?

Das Handwerk, die Freien Berufe, der gesamte Mittelstand gehen amerikanischen Wirtschaftsverhältnissen entgegen: pure Größe und Geld bestimmen unsere Welt.

Wie sagte ein von mir geschätzter Kollege treffend zur Situation: „Vielleicht sollten wir in der Zukunft Politiker-Posten auch nach dem Billigst-Preis-Angebot vergeben!“

Ich denke, die Zeit ist gekommen, dem Abbau bewährter Strukturen und Instrumente im Berufsfeld der Architekten entschieden zu begegnen. Ein "großes Geschrei", basierend auf den guten Argumenten, die wir haben, ist dringend notwendig. Wir müssen jetzt alle Kräfte der Bauschaffenden bündeln und in einer konzertierten Aktion der Politik klar machen: Mit uns nicht und so nicht weiter!

Dieses wünscht sich Ihr

Alfred Schlüter
Vizepräsident der Architektenkammer Nordrhein-Westfalen
schlueter@aknw.de

17. Juli 2003

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