Sprungschanze einer Stadtgesellschaft

Revisited: Vor 50 Jahren begann der Bau des Rathaus-Ensembles von Arne Jacobsen in Castrop-Rauxel.

15. Februar 2021von Dr. Frank Maier-Solgk

Rathäuser sind keine reinen Funktionsbauten. In Deutschland zeigen sie in der Regel ein Doppelgesicht: Auf der einen Seite symbolisieren sie Repräsentation und Tradition, auf der anderen Transparenz und Demokratie; je nach Entstehungszeit.

Im Jahr 2020 organisierte das Ministerium für Heimat und Bau in Nordrhein-Westfalen eine Online-Umfrage zum beliebtesten Rathaus im Lande. Den stärksten Zuspruch der Bürgerinnen und Bürger erhielt das Rathaus von Recklinghausen, ein repräsentativer Bau im Stil der Gründerzeit. Rang zwei und drei belegten die Rathäuser von Paderborn und Brilon, letzteres ein barockes Schmuckstück. Abgeschlagen waren die Modernen, etwa die Stadtkrone von Marl (Bakema/van den Broek) oder der Rathausturm in Essen (T. Seifert).
Zu den Siegern gehörte auch nicht das Ensemble von Castrop-Rauxel, von dem der Bürgermeister der Stadt augenzwinkernd meinte, keine Stadt in NRW habe so schöne Sprungschanzen. Es ist wohl so: Die Nachkriegsarchitektur der 1960er und 1970er Jahre stößt jenseits der Profession auf wenig Gegenliebe. Identifikationspotenzial, wie sie historische Rathäuser anbieten, besitzen diese Bauwerke offenbar in geringem Maße, wobei auch die damaligen Größenordnungen die Akzeptanz erschweren. Die Diskussionen über die Zukunft des Mainzer Rathauses von Jacobsen belegen es.
Mit dem Bau in Castrop-Rauxel nach den Plänen von Arne Jacobsen wurde 1971, vor 50 Jahren, begonnen. Der berühmte dänische Architekt und Designer hat die Fertigstellung des neuen Stadtmittelpunktes allerdings nicht mehr selbst erleben können; schon im März 1971 verstarb er. Seine Mitarbeiter Otto Weitling und Jan Dissing führten das Projekt fort. Die offizielle Eröffnung fand 1976 statt.
Tatsächlich waren in Castrop-Rauxel - wie auch in Marl - der Rathausbau mit größeren stadtplanerischen Aufgaben verbunden. Im Hintergrund stand die Idee einer Zentralisierung städtischer Funktionen und die Herausbildung einer neuen städtischen Mitte: Aufgabe, so die Ausschreibung, sei der „Entwurf eines Rathauses mit Sporthalle, Mehrzweckhalle und Volkshochschule auf einer Fläche zwischen Bahnhofstraße und B235, die die geographische Mitte der Stadt ist“.
Besucht man den Ort heute, wird man zunächst von den Dimensionen beeindruckt. Mehr als 250 Meter lang ist der nur Fußgängern vorbehaltene Europaplatz, der eine Tiefgarage unter sich birgt und an den Längsseiten von Gebäudereihen eingefasst wird: Die Nordseite schließt der durch verglaste Treppenhäuser unterteilte Riegelbau, der die städtische Verwaltung aufnimmt. Ihm vorgelagert ist ein Laubengang sowie der fast zierlich wirkende Ratssaal. Die Begrenzung auf der Südseite bilden Stadt- und Europahalle, die durch den Flachbau eines Restaurants zusammengehalten werden. Eine Volkshochschule am westlichen Rand wurde nicht errichtet.
Hauptmerkmal des nach geometrischen Linien angelegten Ensembles sind natürlich die freispannenden Dächer von Ratssaal, Stadthalle und Europahalle, die dem Verlauf der zwischen Stahlbetonpylonen aufgehängten Stahlseilen folgen und sich sanft zum Platz hin neigen. Noch immer strahlt diese stützenfreie Hängedachkonstruktion Eleganz und Dynamik aus. Dass das Ensemble – auch angesichts einer Einwohnerzahl von zur Entstehungszeit gut 80 000 (heute 73 000) – dennoch überdimensioniert erscheint, sollte man bei aller Wertschätzung für die seit 2010 unter Denkmalschutz stehende Konstruktion dennoch nicht verschweigen – trotz der Auszeichnung des Bauwerks als „big beautiful building“ durch die Landesinitiative Baukultur Nordrhein-Westfalen.
Vieles bedarf heute einer Erneuerung, und darüber hinaus erscheint es angebracht, auch darüber nachzudenken, auf der großen Freifläche neue Akzente zu setzen. Die Stadtverwaltung ist sich des Themas bewusst. Vor kurzem hat man das lange Jahre stillgelegte Wasserbecken direkt vor dem Ratssaal saniert. 2017 wurde ein „Integriertes Entwicklungskonzept Stadtmittelpunkt“ erarbeitet. Neuen Schwung in die Diskussion wird möglicherweise auch die anlässlich des 50. Todestages von Arne Jacobsen als Wanderausstellung konzipierte Würdigung des Architekten bringen („Gesamtkunstwerk – Architektur von Arne Jacobsen und Otto Weitling Deutschland“, Kuratoren: Hendrik Bohle und Jan Dimog).

Immerhin acht Großprojekte hat Arne Jacobsen in Deutschland umgesetzt. Ab September dieses Jahres soll die Schau, die derzeit noch in den Nordischen Botschaften in Berlin gastiert, im Ratssaal von Castrop-Rauxel zu sehen sein. 

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