Architektenkongress: Stadt 4.0 - Fata Morgana oder Lösung?

Kernaussagen der Vorträge des diesjährigen Internationalen Architektenkongresses der Architektenkammer Nordrhein-Westfalen (30.05.-03.06.2018) in Rotterdam.

19. Juni 2018von Dr. Frank Maier-Solgk

"Da haben Sie uns einiges mit auf den Weg gegeben." Der Dank des Präsidenten der Architektenkammer NRW an die 16 Referenten des Architektenkongresses in Rotterdam galt Vorträgen, die analytisch scharf, historisch profund und dennoch unterhaltsam waren. Die in hohem Maß zum Nachdenken anregten und die nach Rotterdam zum Internationalen Architektenkongress der AKNW angereisten 250 Zuhörer vielfach fesselten.

Es ging um die Leitbilder für die Stadt des 21. Jahrhunderts, die nicht zuletzt mit Konflikten auf sozialem,aber auch politischem und wirtschaftlichem Feld konfrontiert sein werden. Wie auf Krisensituationen und den heutigen Entwicklungsdruck auf Städte planerisch zu reagieren ist, war eine der zentralen Fragen der Tagung. Den Zukunftsvisionen, sei es die der smarten oder digitalen Stadt 4.0, begegnete man überwiegend mit einer vielleicht ganz gesunden Skepsis. In Sichtweite der Hochhäuser der im Krieg zerstörten und sich heute rapide verändernden Metropole Rotterdam, die der stellvertretende Bürgermeister der Stadt, Robert Simons, bei seiner Begrüßung als „wichtigsten Hafen von NRW“ vorstellte, wurde deutlich, dass auch hier die Idee der europäischen Stadt noch nicht ausgedient hat.Die europäische Stadt weiterentwickeln, Wohnen und Arbeiten stärker miteinander verschränken,sich von Trends wie Digitalisierung nicht treiben lassen, sondern aktiv gestalten– dies waren nur einige der Leitgedanken, welche die nordrhein-westfälische Ministerin für Heimat, Kommunales, Bau und Gleichstellung,Ina Scharrenbach, betonte. In NRW sei schon Vieles mit der neuen Landesbauordnung in die Wege geleitet worden, wobei die Ministerin das Primat der Innen- vor Außenverdichtung ebenso hervorhob wie die Verbesserung der Möglichkeiten von Ausbau und Aufstockung, die Lockerung des Stellplatznachweises und die Anpassung der Abstandsvorschriften.

Tradition und Fortschritt

Ein wichtiges Thema sei aktuell die Bebauung von innerstädtischen Brachen. „Wir wollen diese Flächen in den Markt bekommen“, so die Ministerin. Der Stärkung von Stadt- und Ortskerne wiederum diene die neue Initiative„Zukunft Innenstadt NRW“. Städte sollen sich entwickeln dürfen, so Ministerin Scharrenbach, wozu auch eine Liberalisierung des Landesentwicklungsplans gehöre. Wachstum aktiv gestaltet, Offenheit für neue Technologien,aber im Sinne der europäischen Stadt: die Bauministerin brach eine Lanze für eine neue, dynamische Verbindung von Tradition und Fortschritt. Soziologisch gesehen ist die Stadt der Ort, wo zusammenkommt, was eigentlich nicht zusammengehört, wo Fremdheit in Form von unterschiedlichen sozialen, religiösen, nationalen Backgrounds zu Hause ist, postulierte Prof. Dr. Armin Nassehi, Soziologe an der Ludwig-Maximilians-Universität in München.

Stadt des Fremden, Stadt der Bildung

Wollte man eine Definition im Hinblick auf den Einzelnen formulieren, so sei die Stadt „der Ort, wo man sein kann, ohne sich legitimieren zu müssen, warum man da ist“. Anders als in den Utopien einer Stadt 4.0, die suggerierten,alles würde problemlos mit allem harmonieren,seien in der Stadt von heute die Gegensätze zu Hause, deren Zusammenspiel auch wenig mit einem biologischen Begriff des Organismus zu tun habe und deren Planung immer wieder kurzfristig revidiert werden müsse. Daraus folgt nach Prof. Nassehi stadtplanerisch die Aufgabe, funktionale und soziale Flexibilität sicherzustellen, während es auf politischem Feld darum ginge, Konflikte zu organisieren und Veränderungen unter Partizipation der Bürger zu entwickeln. aufgefordert“, so der Münchener Soziologe, „eine urbane Haltung zu entwickeln, die es uns erlaubt, das Andere aushalten zu können.“

Bei Rajeev Kathpalia, Partner des in diesem Jahr mit dem Pritzker-Preis ausgezeichneten Büros Vastu Shilpa Consultants aus Ahmedabad, standen natürliche Parameter wie Klima, Topographie oder die Bodenbeschaffenheit für erst zu entwerfende Städte im Mittelpunkt. Hintergrund mehrerer neuer Campusstädte, für die das Büro derzeit Masterpläne entwickelt, sind verstärkte Bemühungen der indischen Regierung um eine Urbanisierung des ländlichen Raumes, die zugleich dem Bildungssektor Aufmerksamkeit schenkt.

Vor dem Hintergrund, dass es kaum ganzjährig Wasser führende Flüsse in Indien gibt, ist bei diesen Projekten der Umgang mit dem Thema Wasser zum zentralen Ansatzpunkt geworden. So sieht der Masterplan für die in der Nähe der historischen Ausgrabungsstätte liegende Nalanda Universität (Rajagir) einen Campus innerhalb eines Terrains von rund 185 Hektar vor, der um einen zentralen See, der als Wasserreservoir fungiert, angelegt ist. Der Campus verbindet Wohnen und Lehre, ist im Kern fußläufig zu durchqueren und in seiner offenen, flexiblen Struktur  sowie dem großen Anteil an landwirtschaftlich genutzter Fläche darauf ausgerichtet, auch die in der Nachbarschaft liegenden Dörfer in die weitere Entwicklung einzubeziehen. Modellcharakter besitzen nicht nur ein ehrgeiziges, in die Umgebung ausstrahlendes Nachhaltigkeitskonzept (80 % des Wasserverbrauchs wird recycelt), sondern auch eine an traditionell-indischen, klimatisch effektiven Bauformen (z. B. dem Veranda-Prinzip) orientierte Stadtentwicklung.

Feinkörnigkeit oder große Gesten

Die Qualitäten der europäischen Stadt liegen nach Prof. Dr. Fritz Neumeyer (Lehrstuhl für Architekturtheorie an der TU Berlin) in ihrer kleinteiligen Textur. Die „Feinkörnigkeit“ habe historisch gesehen nicht nur ein hohes Maß an Nutzungsvielfalt auf engem Raum ermöglicht, sondern auch die Überlagerungen und das Nebeneinander unterschiedlicher Zeitschichten erlaubt. Das Plädoyer von Prof. Neumeyer für dieses tradierte Bild einer gewachsenen europäischen Stadt kann sich in der Tat nicht zuletzt darauf stützen, dass sich entsprechende Viertel, Straßen oder Ensembles bis heute unverändert großer Beliebtheit erfreuen; sie haben die Modelle und Leitbilder etwa der aufgelockerten Nachkriegsstadt mit Funktionstrennungen als Ideal jedenfalls überdauert.

Die heutigen Gefahren für dieses Ideal gewachsener Vielfalt liegen auf der Hand: Es sind vorhandene Machtstrukturen und Investoren mit Renditeerwartungen, die einzig monotone Strukturen erfüllen können. Der politische Gegensatz zum Vorredner hätte kaum größer sein können: Dr. Patrik Schumacher, nach dem Tod von Bürogründerin Zaha Hadid Chef des weltweit agierenden Architekturbüros mit Hauptsitz in London, machte keinen Hehl aus seiner marktliberalen Grundeinstellung. In einer fulminanten tour de horizon durch die Projekte des Büros zeichnete er Facetten eines Stadtbildes, die als Endstadium einer historischen Entwicklung von den monotonen Zeilen der Nachkriegszeit (mute city) über die gestaltlose Stadt der letzten Jahrzehnte (noisy city) bis zur angestrebten „eloquent city“ führt.

Dieses zukünftige Bild, das Schumacher entwarf, trägt nicht mehr die Züge der Stadt des 19. Jahrhunderts; es ist eine Stadt architektonischer Großkörper mit fließend eleganten Formen, die räumlich und funktional eine neue Gesellschaft mit unendlichen Kommunikationsformen widerspiegelt. Die Kernkompetenz des Architekten sei räumliche Kommunikation. Freilich, so Schumacher, werde das Büro Zaha Hadid weniger für Fragen der Stadtplanung als für singuläre signalhafte Einzelobjekte ausgewählt. Dennoch: Großprojekte des Büros wie Flughäfen, Kulturzentren, Museen und Universitäten spiegelten in ihren räumlichen Konzepten einen sozialen Zustand wider, der die ehemalige Vielstimmigkeit der Gesellschaft in Form grandioser Räume lesbar macht, erläuterte Patrik Schumacher. Ob Utopie oder Realität – Schumachers Speech löste lebhafte Diskussionen unter den Kongressteilnehmern aus.

Regionalität und Ornament

Vom Charakter zumindest eines der Bauten des Büros Neutelings Riedijk Architects konnten die Teilnehmer des Architektenkongresses sich intensiv selbst überzeugen, fand dieser doch im Shipping & Transport College im Rotterdamer Hafen statt – einem Entwurf des Büros von Michiel Riedijk aus dem Jahr 2005. 

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