Kommentar: Intelligente Fragen zur Smart City

Der Internationale Architektenkongress der AKNW hat nicht nur viele Erkenntnisse zur Zukunft der europäischen Stadt gebracht. Er hat auch gemahnt, keinen Antworten zu glauben, für die niemand Fragen gestellt hat.

19. Juni 2018von Klaus Brüggenolte, Vizepräsident der Architektenkammer Nordrhein-Westfalen.

Der Begriff „Tunnelblick“ steht in der Augenheilkunde synonym für das „Röhrengesichtsfeld“, eine konzentrische Einengung des Gesichtsfeldes auf einen zentralen Rest. Übertragend wird der Begriff verwendet,wenn beschrieben werden soll, dass die Konzentration auf ein bestimmtes Themenfeld andere wichtige Aspekte ausblendet. Der „Internationale Architektenkongress“, zu dem die Architektenkammer NRW Ende Mai nach Rotterdam eingeladen hatte, wirkte einer solchen Einengung der fachlichen Wahrnehmung der Wirklichkeit effizient entgegen.

Die Referentinnen und Referenten, die aus der Perspektive ganz unterschiedlicher Disziplinen auf das Phänomen „Stadt“ blickten und ihre Erkenntnisse und Thesen zur Zukunft der europäischen Stadt formulierten, rüttelten die 250 Kongressteilnehmer immer wieder auf, indem sie Fragen aufwarfen, die innerhalb der Planungsbranche bisweilen aus dem Blick zu geraten drohen. So richtete der Sozialpsychologe Prof. Harald Welzer die verwunderte Bemerkung an die Kongressteilnehmer, was denn eigentlich mit Begriffen wie „Stadt 4.0“ (unserem Kongress titel) oder „Smart City“genau gemeint sei. „Worauf antwortet eigentlich die immer komplexere technische Vernetzung der Stadt?“, wollte Welzer wissen. Bringe die technische Aufrüstung unserer urbanen Agglomerationen eigentlich noch echte Vorteile – oder werde die Stadt nicht vielmehr extrem anfällig für terroristische Angriffe oder einen technischen Blackout?

Auch der Umweltexperte Dr. Axel Friedrich stellte zur Diskussion, ob immer bessere digitale Verkehrsleitsysteme, Ampelschaltungen und Parkplatzbewirtschaftungen nicht Ausdruck einer grundsätzlich falschen Stadtplanung seien, die das Auto als wichtiges Attribut des Städtischen betrachte. Richtig sei vielmehr, so Friedrich, Forschung und Investitionen in die Herausnahme der Autos aus der Stadt und in die Stärkung des Radverkehrs und eines kostengünstigen, leistungsfähigen öffentlichen Personennahverkehrs anzustrengen.

Wir berichten in dieser und der kommenden Ausgabe des Deutschen Architektenblattes intensiv über die Ergebnisse unseres „Inselkongresses“, weil die Resonanz unserer Mitglieder, die in Rotterdam dabei waren, und auch der zahlreichen Gäste aus Politik, Verwaltung und Verbänden uns gezeigt hat, dass die drei Kongresstage an der Maas bei vielen ein neues, intensives Nachdenken über die Grundzüge künftiger urbaner Entwicklungen angestoßen haben.

Etwa die exakte historische Analyse der europäischen Stadtentwicklung von Prof. Dr. Werner Durth, der aufzeigte, dass die Zeit von Leitlinien, die in einer Charta festgeschrieben werden, in der Stadtentwicklung endgültig vorüber sein müsse. Stattdessen zeigte Durth am Beispiel der Internationalen Bauausstellungen der letzten vier Jahrzehnte überzeugend auf, dass Stadt ein lernendes System ist, für dessen Entwicklung praktische Forschung und Bürgerpartizipation wichtiger seien als formelhafte Lehrsätze.

Ein Beispiel für diese Thesen lag den Kongressteilnehmern, die im 13. Stockwerk der Schifffahrts- und Transport-Schule in Rotterdam tagten, quasi zu Füßen: Die Stadt Rotterdam,die kurz vor Ende des Zweiten Weltkriegs in ihrem Kern nahezu vollständig zerstört wurde. Und die – nach dem modernen Wiederaufbau der Nachkriegszeit – seit Mitte der 1990er Jahre einen enormen zweiten Erneuerungsschub erfahren hat. In Exkursionen konnten die Großbauten von Rem Koolhaas, MVRDV, Neutelings Riedijk Architects und anderen besucht werden, und viele staunten über die Expressivität und den Mut der niederländischen Architektenkollegen.

Unser Internationaler Architektenkongress wurde erneut von Bau- und Verkehrspolitikern unseres Landtags begleitet. Auch sie zeigten sich angeregt von den Analysen und Reflexionen der Referenten - und von den vielen Gesprächen,die am Rande des Tagungsprogramms geführt wurden. Denn der Tunnelblick ereilt jeden, der sich über lange Zeit intensiv mit Detailfragen eines Themenfeldes befasst. Wenn Sie unmittelbar vor dem OMA-Großbürohaus „De Rotterdam“ stehen, nehmen Sie nur Fassadendetails und eine große Glasfront wahr. Erst wenn Sie einige Schritte zurückgehen und etwas Abstand gewinnen,entdecken Sie die Eleganz und den Charme des Ensembles. 

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