Auf Bahngleisen in die digitale Zukunft

Serie "Revisited": In Wuppertal feiert der historische Mirker Bahnhof seinen 140. Geburtstag. Nebenan läuft im Juni der „Solar Decathlon Europe“

16. März 2022von Dr. Frank Maier-Solgk

Der historische Mirker Bahnhof im Norden Wuppertals versteckt sich derzeit noch hinter dunklen Planen. Die Sanierungsarbeiten am Gebäude und im Umfeld sind voll im Gange: Homathermplatten werden auf den Dachstuhl gehievt; das über Jahre durchlässige Dach muss erneuert werden. Die ausgemauerten Fachwerkwände, die teilweise mit Schiefertafeln bedeckt sind, erhalten eine Innendämmung; Einbauten aus Bahnzeiten müssen zurückgebaut, eine Holzbalkenkonstruktion teilweise erneuert werden. Es ist eine Komplettertüchtigung mit Gebäudesicherung und neuer Haustechnik, die das Wuppertaler Architekturbüro insa4 als Generalunternehmer leitet und koordiniert.

Seit 2019 ist die durch Mittel der Städtebauförderung zu 80 Prozent geförderte und mit viel Eigeninitiative verfolgte Sanierung in Gange. Der Prozess ist diffizil, Denkmal Denkmalschutz und nicht zuletzt die Brandschutzauflagen müssen in Übereinstimmung gebracht werden. Immerhin ist das Empfangsgebäude, das von der Rheinischen Eisenbahn-Gesellschaft 1882 als Teil einer zweiten Strecke von Düsseldorf nach Dortmund errichtet wurde, 140 Jahre alt. Etwa 100 Jahre blieb die Strecke in Betrieb, bis 1991 schließlich die Stilllegung erfolgte. Die Bahn wusste nicht viel mit dem Areal anzufangen; ein langsamer Verfall folgte, bis ab den 2010er Jahren erste Schritte zu einer Konversion begannen. Manchmal dauert es eben etwas länger, bis das Potenzial einer Immobilie erkannt wird.

Verbunden ist die Wiederauferstehung vor allem mit dem Kreativnetzwerk „Utopiastadt“, das als gemeinnützige GmbH den Bahnhof 2011 übernahm und in der Folge damit begann, aus „Utopien“ Wirklichkeiten werden zu lassen. 2014 zog ein Café in die einstige Wartehalle ein, Workshops zu urbanen Themen wurden durchgeführt, eine Vielzahl von Lesungen und Konzerten organisiert. Im ersten Obergeschoss kann ein Co-Working-Space angemietet werden; eine Urban Gardening-Initiative ist vor Ort aktiv; es gibt einen viel frequentierten Fahrradverleih; und vor einem Jahr zog als Nachbar eine Kaffeerösterei ein. Ein besonderes Kennzeichen von Utopiastadt sind die Ehrenamtlichen, die vor allem an den Wochenenden zahlreich präsent sind und derzeit die ehemalige Gepäckabfertigungshalle zu sanieren helfen. Der Mirker Bahnhof ist heute Veranstaltungs-, Arbeits-, Denk- und Freizeitort in einem und verkörpert damit genau die Idee des Utopiastadt-Netzwerks, das mehrfach mit Preisen des Landes NRW ausgezeichnet wurde.

Utopiastadt, erzählt Geschäftsführer Christian Hampe, gründete auf einer gemeinsam mit der Kommilitonin Beate Blaschczok entwickelten Zeitschrift zu gesellschaftspolitischen Themen. „Daraus entwickelten sich die Aktivitäten einer Gruppe von Menschen, die sich für Fragen der Stadtentwicklung wie Leerstand, für neue Formen der Mobilität und Perspektiven gelingender Migration in ihrer eigenen städtischen Umgebung interessierten. Es ging und es geht uns auch heute darum, von der Theorie in die Praxis zu gehen und von der Praxis schließlich auch wieder zur Theorie, durchaus mit dem Wunsch nach Breitenwirkung.“ Ein Beispiel für Letzteres wäre etwa das ebenfalls angeschlossene Netzwerk „Immovielien“, das deutschlandweit Projektbeispiele einer zivilgesellschaftlich initiierten und sozialverträglichen Stadtentwicklung vorstellt.

Dass für diese komplexen Visionen ein attraktiver urbaner Ort jenseits des akademischen Elfenbeinturms eine ausschlaggebende Rolle spielt, ist offenkundig. Den historischen Bahnhof mit seinem da und dort noch Shabby Chic-Ambiente kann man als Glücksfall bezeichnen. Wichtig für die Entwicklung war nicht zuletzt die 2014 fertiggestellte Nordbahnfahrradtrasse auf den ehemaligen Gleisen. Sie ist ein Beispiel dafür, dass die viel diskutierte Veränderung unserer Mobilität nicht nur ökologischen Argumenten folgt, sondern sich mit der touristischen Aufwertung einer Region verbinden lässt.

Im Juni dieses Jahres wird auf der Fläche hinter dem Bahnhof der „Solar Decathlon Europe“, ein anerkannter weltweiter Architektur-Studienwettbewerb, zu seinem 20. Jubiläum seine „Zelte“ aufschlagen. Zelte aufschlagen heißt in diesem Fall: Die Teams aus aller Welt errichten 18 mit Solarstrom versorgte Häuser, die innovative Beispiele für klimafreundliches Bauen und Wohnen vorstellen werden. Der Mirker Bahnhof von Wuppertal – das sind alte Mauern mit neuen Konzepten.

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