Baukunst nicht ohne die Kunst des Bauens
Retrospektive: Der Bauingenieur Stefan Polónyi (1930 - 2021)
Das Werk von Stefan Polónyi ist im Lande allgegenwärtig, und doch sind sich die Wenigsten dessen gewärtig. Polónyi war Tragwerksplaner. Mit seinen Berechnungen und Versuchsmodellen sorgte er dafür, dass die Bauwerke, an denen er beteiligt war, so ausgeführt werden konnten, wie die Architekten und er sie sich vorgestellt hatten, und dann auch stehen blieben. Das hindert nicht, dass der Zahn der Zeit da und dort seine Spuren hinterlässt – seit 2018 wird eine seiner Betonschalenkonstruktionen denkmalgerecht saniert: das Museum für Keramik „Keramion“ in Frechen, entworfen von Peter Neufert 1971. Unter den Bauaufgaben des großen Bauingenieurs war fast alles dabei: Wohnhaus, Kirche, Universität, Museum, Theater, Fernmeldeturm, Sporthalle, Messebau, Bürohaus, Spielbank, Bahnhofshalle, Haltestelle. Und hier in NRW eine ganze Brückenfamilie. Nur die letzte der Brücken, die Brücke über die Ripshorster Straße in Oberhausen, und das Schutzdach über den archäologischen Ausgrabungen der römischen Stadtthermen in Xanten, hat Polónyi auch selbst entworfen. Sonst arbeitete er stets mit Architekten zusammen; nicht nur als derjenige, der die vorgelegten Entwürfe in Konstruktions- und Bewehrungspläne überführt, sondern als kongenialer Mit-Entwickler des Bauwerks.
Die Liste der Architekten ist illuster, sowohl national wie international. Sie verweist stets auf Projekte, die über die Norm hinausgreifen, wo aus dem bautechnisch richtigen erst Bau-Kunst entsteht. Für Stefan Polónyi gab es keine absoluten „wissenschaftlichen“ Wahrheiten. Auch hat er kein Baumaterial besonders bevorzugt. Jede Lösung müsse induktiv erarbeitet und nicht deduktiv aus den erlernten Regeln abgeleitet werden.
Mitbegründer des Dortmunder Modells
Polónyi betrieb nicht mehr und nicht weniger als die Neudefinition seiner Profession. Letztlich geht auf ihn die Umbenennung des Berufs des „Baustatikers“ in „Tragwerksplaner“ zurück, eingefordert anlässlich seiner Berufung als Professor für „Tragwerkslehre“ an die Technischen Universität Berlin 1965. Dort lehrte er bis 1972 und wechselte dann 1973 an die neu gegründete Technische Hochschule - heute - TU Dortmund als Professor für Tragkonstruktion. In zwei Jahrzehnten bis zu seiner Emeritierung 1995 prägte er mit Hermann Bauer, Harald Deilmann und Paul Kleihues den gänzlich neu strukturierten Studiengang „Bauwesen“. Dieses „Dortmunder Modell“ zielt darauf ab, die Studierenden in Architektur und Ingenieurwesen parallel auszubilden. Beide Professionen werden traditionell unabhängig voneinander gelehrt, sind aber in der Baupraxis aufeinander angewiesen. Die Bemühungen, auch die Technische Gebäudeausrüstung einzubeziehen, blieben zu Polónyis großem Bedauern erfolglos. Das in der Lehre praktizierte Prinzip, von Beginn an interdisziplinär zu planen, verfolgte er konsequent auch in der eigenen Arbeit.
Stefan Polónyi war gebürtiger Ungar und schloss 1952 sein Ingenieurstudium an der Universität Budapest mit Diplom ab. Noch bis 1956 arbeitete er dort als Assistent am Lehrstuhl und zog dann in die neue Wahlheimat Köln. Nach kurzer Mitarbeit in einem Betonfertigteilwerk, aus der kühn auskragende Tankstellendächer hervorgingen, bearbeitete er im eigenen Büro als Beratender Ingenieur vielfach preisgekrönte Projekte. Den Doktortitel ehrenhalber verliehen ihm die Hochschulen Kassel, Budapest und Berlin, und er wurde als Mitglied in die Akademie der Künste Berlin und als externes Mitglied in die Ungarische Akademie der Wissenschaften berufen, was ihm viel bedeutete.
Expressive Formen
Seine Handschrift ist in Betonschalendächern wie der Hyparschale für St. Suitbert in Essen präsent, an bewegten Glasdächern über Messebauten in Frankfurt, der Berswordt-Halle in Dortmund oder den Hallen am Borsigturm in Berlin, in dem prägnanten Oval des Berliner Bundespräsidialamtes oder dem legendären Stahl-Systembau für die vorgefertigten Wohnboxen der „Metastadt Wulfen“ (Entwurf Richard Dietrich 1974-75). Davon existieren jedoch nur noch Prototypen, u.a. im Museum of Modern Art in New York. Für die Neue Stadt Wulfen war auch der erste Brückensteg entstanden, eine Kastenbrücke auf Betonpylonen.
Meister der Brückenbaukunst
Signalwirkung erhielten später die Brückenstege im Nordsternpark in Gelsenkirchen im Auftrag der BUGA 1997. Um dort das ehemalige Zechengelände über Straßen, die Emscher und den Rhein-Herne-Kanal hinweg begehbar zu machen, hat das Team Polónyi mit PASD Feldmeier Wrede Architekten insgesamt sieben verschiedene Stege für Fußgänger und Radfahrer entwickelt. Konstruktiv folgen sie zwei unterschiedlichen Systemen, der Gitterbrücke und der Bogenbrücke mit Seilabspannungen. Die Idee, die Bögen in rotem Stahlrohr auszuführen, macht sie augenfällig, besonders die Kanalbrücke, deren zwei Bögen sich der geometrisch exakten Figur einer Sinuskurve nur annähern. Tatsächlich beschreiben sie die Fluglinien von zwei Steinwürfen hin und zurück über das Wasser. Zusätzlich fußen sie nicht brav beidseits des Steges, sondern überschreiten diesen als Paar von der einen auf die andere Seite. Ergänzt durch das zarte Gitter der Stahlseile ergibt das ein komplexes und je nach Standpunkt variables Bild vielfach sich durchdringender Kurven und Geraden. So wird Gebautes zum Erlebnis und zur einprägsamen Bau-Kunst. Stefan Polónyi hat seinen umfangreichen fachbezogenen Nachlass dem Archiv der TU Dortmund vermacht. Die Internetseite www.baukunst.nrw hält eine Route mit acht Stationen zu Bauten bereit, die es in dieser Form ohne das Wirken von Stefan Polónyi nicht gäbe.
Infos zur Brücke (siehe Bild oben):
Auftraggeber: BUGA 1997 GmbH
Architektur: PASD Feldmeier • Wrede Architekten, Hagen
Tragwerksplanung: IPP Prof. Polonyi + Partner
Auszeichnungen: Die Brücke wurde 2001 mit dem „Renault Award für Traffic Design“ (seit 2006: Renault Traffic Future Award) ausgezeichnet.
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