Die NRW-Architektur der 1960er Jahre : Aufbruchsarchitektur
Sie waren die Zeit des Aufbruchs, des Wirtschaftswunders, der „großen weiten Welt“ und einer Mobilität, die von der autogerecht umgebauten Innenstadt bis zum Mond reichte – die optimistischen 1960er Jahre. Heute, in einer Zeit der Rückblicke - auf 60 Jahre Bundesrepublik, auf das Grundgesetz und die notorischen 68er - heute kommen bei den Bestandsaufnahmen der bundesrepublikanischen Geschichte auch zunehmend deren baulichen Errungenschaften in den Blick. Vor wenigen Monaten wurde der Bonner Kanzlerbungalow von Sep Ruf der Öffentlichkeit als Museum übergeben – als gebautes Symbol der Bonner Republik.
Wie sonst kaum ein kulturelles Erzeugnis macht die Architektur, als Spiegel gesellschaftlicher Entwicklungen, jedenfalls die Hoffnungen wie die Verwerfungen der Zeit sichtbar - im Fall der 1960er Jahre einen heute manchmal wundersam anmutenden und bewusst das Gefällige vermeidenden Fortschrittsglauben. Das Museum für Architektur und Ingenieurbaukunst in Gelsenkirchen (M.AI) widmet der viel besungenen Zeit ab dem 24. August 2009 eine Ausstellung.
Als Ausstellungsorte wurden zwei Bauwerke gewählt, die repräsentativ für ihre Epoche stehen: Eröffnet wird die Retrospektive in der Liebfrauenkirche in Duisburg – einer 1958-1960 von Toni Hermanns in Stahlbeton errichteten Doppelkirche. Ab Mitte Oktober wechselt sie nach Bochum, in eines der berüchtigten Großprojekte jener Jahre: In die 1965 eröffnete Ruhr-Universität (Hentrich-Petschnigg), die angesichts von Fassadenrissen und bröckelndem Beton in einer auf mehr als ein Jahrzehnt angelegten Großunternehmung bei laufendem Betrieb derzeit (kern-)saniert wird.
Mit Modellen, Fotografien, Zeichnungen und Filmen will die Ausstellung die Epoche sichtbar machen. Auch der Zeitgeist soll einem breiteren Publikum in Erinnerung gebracht werden, mit einer mit Accessoires der Zeit ausgeschmückte ‚Lounge’, während die ausgewählten architektonischen Beispiele in und auf Möbeln der 1960er Jahre präsentiert werden; auf Bürotischen von Egon Eiermann zum Beispiel und, detaillierter dann, in Planschränken, in deren Schubladen die Pläne und Entwürfe der Architekten für ein genaueres Studium aufbewahrt sind.
Der Blick zurück auf eine bisher eher vernachlässigte Phase der jüngeren Architekturgeschichte kann gerade heute durchaus gute Gründe anführen. Nach und nach nämlich verschwinden die Zeitzeugen. Die Abrissbirne ist eine permanente Gefahr, und sie betrifft nicht nur jene Bauten, die den schlechten Ruf der angeblich nur von uniformer Massenarchitektur geprägten Epoche begründet haben.
Die Leiterin des M.AI, Ursula Kleefisch-Jobst, begründet die bevorstehende Rückschau nicht zuletzt mit der aktuellen Gefährdung der heute vielfach sanierungsbedürftigen Gebäude der 1960er Jahre. In Nordrhein-Westfalen sind, trotz Denkmalschutz, manche Bauten jener Jahre bereits verschwunden oder zum Abriss freigegeben. Vermisst wird – zumal angesichts des fragwürdigen Nachfolgebaus, des sogenannten CityPalais – zum Beispiel die Mercatorhalle in Duisburg. Demnächst wird Friedrich Tamms „Tausendfüßler“, die freilich viel diskutierte Hochstraße in der Stadtmitte Düsseldorfs, den neuen städtebaulichen Plänen einer grünen Allee weichen; und ungewiss ist beispielweise wohl auch die Zukunft der Bonner Beethovenhalle (erbaut bereits 1959), an deren Stelle ein neues Konzert- und Festspielhaus geplant wird.
Jede Entscheidung über Sanierung oder Abriss bedarf einer individuellen Bestandsaufnahme und jeweils einer eigenen Begründung und wird daher unterschiedlich ausfallen. Die 1960er Jahre haben diesbezüglich keinen leichten Stand; sie genießen architektonisch, zumal in der Öffentlichkeit, einen denkbar schlechten Ruf. Bestandsaufnahme im Einzelfall
Auch unter Fachleuten ist die Epoche, so Kleefisch-Jobst, umstritten. Nicht umsonst war 1965 das Jahr, in dem Alexander von Mitscherlich „Die Unwirtlichkeit unserer Städte“ geißelte. So will man mit der Ausstellung der bis heute vor allem durch Schlagwörter wie Großstrukturen, Betonbrutalismus oder städtische Verdichtung geprägten Diskussion zu einem differenzierteren Blick verhelfen. Dabei sollen verschiedene inhaltliche Schwerpunkte wie „Architektur als Wissenschaft“, „Funktionalismus“, „Struktur und Plastizität" oder „Go West“ das breite, bisher noch wenig aufgearbeitete Spektrum an Ausdrucksformen und Zielsetzungen jener Jahre vor Augen führen.
Tatsächlich gab es neben den Großbauten wie dem Klinikum Aachen, das dem damaligen Prinzip huldigte, möglichst alle Funktionen unter einem Dach zu vereinen, und den Großsiedlungen wie Chorweiler in Köln, Girondelle in Bochum, dem Wohnhügelhaus in Marl oder dem futuristischen Projekt einer Metastadt Wulfen, auch fast konträre Strömungen. Die Betrachtung der zahlreichen, in den 1960er Jahren neu errichteten Kirchenbauten gerade in Nordrhein-Westfalen ist heute eine architektonisch durchaus anregende Angelegenheit.
Kirchen der 60er mit Experimentierfreude
Die Heilig-Geist-Pfarrkirche in Leegmer von Georg Baumewerd, die Wallfahrtskirche Maria Königin des Friedens in Neviges oder die Kirche Christi Auferstehung in Köln-Melaten – beide von Gottfried Böhm – sind sprechende Beispiele für einen Bautypus, der damals offenbar auch Gelegenheit für eine große formale Experimentierfreude bot. Sieht man sich zum Beispiel die verschachtelten Betonkuben der Kirche Christi Auferstehung an, so artikulierte sich hier eine Ausdrucksstärke und körperliche Präsenz, die man angesichts der formal vergleichbaren, spielerisch-dekonstruktivistischen Skulpturentürme eines Frank O. Gehry fast schon vergessen hätte. Überhaupt wäre das negative Bild des seit der Antike verwendeten Werkstoffs Beton einmal auf seine psychologischen Wirkungen zu hinterfragen. Nicht zuletzt der Beton nämlich ist es, der mit seiner rohen Anmutung im Gegensatz zum natürlich-warmen Holz und eleganten Glas den schlechten Ruf der Bauwerke jener Epoche mit begründet hat.
Vielleicht noch typischer, sicherlich verbreiteter für die Zeit als jene sinnlich-expressive Kirchenrenaissance aber war die am internationalen Stil orientierte, alles Repräsentative vermeidende, gleichsam pro-westliche Ausrichtung der Architektur. Die Beispiele jener Jahre, von denen der Berliner Ernst-Reuter-Platz das ideologische Anliegen in städtebaulicher Hinsicht vielleicht am deutlichsten zum Ausdruck bringt, sind leuchtende Manifestationen für die nicht zuletzt auch politisch verstandene Orientierung am vorherrschenden, amerikanisch geprägten Stilempfinden. Der Kanzlerbungalow in Bonn, die beiden von den Holländern van den Broek/Bakema errichtete Rathaustürme in Marl oder auch das einstige Abgeordnetenhaus, der sogenannte Lange Eugen in Bonn (letzterer erinnert formal stark an das UN-Gebäude in New York) demonstrieren eine Sachlichkeit, die politisch als Zurückhaltung vor jeder großen Geste verstanden werden wollte.
Internationaler Stil an der Ruhr
Die Dynamik und das große wirtschaftliche Selbstbewusstsein der Republik drückt hingegen eindrucksvoll das Thyssen- oder Dreischeiben-Haus in Düsseldorf von Hentrich, Petschnigg & Partner aus, das neben dem Thyssen-Hochhaus (ehemal. Rheinstahl-Hochhaus) und der RWE-Hauptverwaltung in Essen (Architekt beider Bauten: Hanns Dustmann) den Hochhausboom im Nachkriegsdeutschland mit initiierte. Alle diese Bauten sind zu Symbolen der Bundesrepublik geworden.
Ein weiteres Feld betritt die Ausstellung mit dem Haus Mayer-Kuckuck in Bad Honnef, ein Beispiel einer Experimentalarchitektur, das mit seinem außerhalb der Umfassungswände angeordnetes Tragskelett neue konstruktive Möglichkeiten - in diesem Fall des Holzbaus - erprobte und ursprünglich als Prototyp gedacht war. Wie so vieles aus jener Zeit, so hat sich damalige Erwartung, dass sich aus dem Prototyp eine Serie industriell vorgefertigter Wohnhäuser entwickeln könne, nicht erfüllt.
Wie die Architektur der 1960 der Jahre zukünftig bewertet, welcher Umgang mit ihr gepflegt wird, ob sie gar in breiterem Maße Denkmalschutzrang erfährt, wird sich wohl erst in der Zukunft herausstellen. Der Diskussion darüber, worin eine sogenannte humane und „schöne“ Architektur unserer Städte besteht, kann die Auseinandersetzung mit jener Zeit jedoch eigentlich nur gut tun.
Ein weiteres wünschenswertes Ergebnis der Ausstellung wäre sicher auch, dass die Hemmschwelle für Abrissneigungen erhöht würde. Ein Vergleich mit dem, was jeweils an die Stelle jener Nachkriegsbauwerke treten soll, wäre in jedem Fall angebracht. Als Zeitdokument sind die Gebäude der 1960er Jahre ohnehin fast unerlässlich.
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