Fachtagung: Dreifache Innenentwicklung

Die Ballungsräume in Nordrhein-Westfalen kommen um eine maßvolle bauliche Nachverdichtung nicht herum, benötigen aber gleichzeitig eine qualitative und möglichst auch quantitative Entwicklung von Grünstrukturen in den Städten sowie eine nachhaltige Verkehrswende. Mit diesem Statement eröffnete der Präsident der Architektenkammer Nordrhein-Westfalen, Ernst Uhing, am 26. November die Fachtagung „Dreifache Innenentwicklung“, mit der Fachleute verschiedener Disziplinen Strategien zur Krisenbewältigung in Zeiten des Klimanotstandes und eine Neubestimmung der Stadtentwicklung nach der Pandemie aufzeigen wollten. „Eine zukunftsfähige Stadtentwicklung kann nur stattfinden, wenn baukulturelle Anforderungen verstärkt in den Vordergrund gerückt werden“, unterstrich Kammerpräsident Uhing.

29. November 2021von Christof Rose

Prof. Rolf-Egon Westerheide, der als Moderator durch die Veranstaltung führte, weitete die Perspektive schon zu Beginn der Online-Fachtagung mit rund 350 Teilnehmenden aus: „Vielleicht sollten wir uns angewöhnen, von einer mehrfachen Innenentwicklung zu sprechen, die noch weitere Dimensionen umfasst, etwa die Entwicklung neuer sozialer und kultureller Strukturen.“ Die europäische Stadt sei durch bauliche Vielfalt auf kleinem Raum gekennzeichnet, wobei dem Marktgeschehen und dem Handel immer eine besondere Rolle zugekommen sei, führte der emeritierte Professor für Stadtplanung (RWTH Aachen) aus. Die Corona-Pandemie habe vorhandene Entwicklungslinien verstärkt und deutlich zutage treten lassen.

Reallabore als Element der Partizipation und Ideenfindung

Welche Strategien weisen bei dieser Zielstellung in die richtige Richtung? „Reallabore können ein erster Schritt zur Rückeroberung öffentlicher Räume sein“, meinte Dr. Daniela Karow-Kluge. Die Landschaftsarchitektin und Citymanagerin der Stadt Aachen strebt an, die Innenstadt „multifunktional, divers, inklusiv, lebendig und strahlend“ zu machen. Dabei verstehe sie sich als Citymanagerin mit ihrem Team „als Innenstadt- und Raumlotsen“. Am Beispiel des Theaterplatzes Aachen machte Daniela Karow-Kluge deutlich, wie über ein Reallabor Wünsche von Anwohner*innen und allen Interessierten erkundet und eingebunden werden konnten, um Ideen für die Umgestaltung des verkehrsumtosten Platzes in der Innenstadt von Aachen zu generieren und dann einen systematischen Planungsprozess zu initiieren.

„Wir wollten das Kopfkino anregen und haben zunächst einen Fotowettbewerb gestartet“, führte Dr. Karow-Kluge aus. In einem ersten Schritt wurden Ende 2019 auf der Nordseite des Theaters der Straßenraum neu aufgeteilt sowie Fahrradständer und unkodiertes Mobiliar eingefügt; etwa ein rechteckiger Holzrahmen, der sowohl als Sandkasten als auch als Sitzgelegenheit genutzt werden konnte. Ein Jahr später erfolgte eine Tanzperformance, die eigens durch den Ort inspiriert wurde und ihrerseits vielfältige Anregungen für die Akteurinnen und Akteure des Reallabors produzierten. Im Rahmen der Europäischen Mobilitätswoche im September 2020 wurde der Platz für den motorisierten Individualverkehr gesperrt, und es zeigte sich, dass neue Gruppen den Raum für sich erschlossen: „Anwohner, die plötzlich auf dem Platz Mühle spielten, Skater, die sich den Raum aneigneten, Künstler*innen, die mit Pop-up-Konzerten überraschten“, listete Dr. Daniela Karow-Kluge auf. Wichtig sei, während des gesamten Prozesses des Reallabors Evaluierungen vorzunehmen, offen für Rückfragen und Kritik zu sein, um daraus für das Projekt zu lernen. „Ein wichtiger Erfolg war, dass die Politik sich überzeugen ließ und schon vor Abschluss klar war, dass der Theaterplatz auch künftig für den Individualverkehr gesperrt bleiben soll.“

Urbanität für alle!

Die künftige Entwicklung des urbanen Wohnens stand im Mittelpunkt des Beitrags von Architekt Klaus Möhren. Der technische Leiter der gemeinnützigen Kölner Wohnungsbaugesellschaft GAG, die 44 000 Wohnungen in ihrem Portfolio hat, präsentierte zwei Beispiele:

Die Siedlung „Grüner Weg“ in Ehrenfeld entstand nach einem Masterplan von ASTOC (Köln) auf einer brachliegenden Gewerbefläche. Etwa 30 Prozent der 241 Wohneinheiten sind öffentlich gefördert. „Wir streben immer nach einer guten Mischung“, erläuterte Klaus Möhren. An der Holsteinstraße in Köln-Mülheim (Lorber Paul Architekten) war es umgekehrt; hier wurden 84 der 120 Wohneinheiten öffentlich gefördert. Wichtige Investitionen, um perspektivisch bezahlbaren Wohnraum zur Verfügung stellen zu können, so Klaus Möhren: „Wenn man sieht, dass ca. 40 Prozent der Haushalte in Köln Anrecht auf einen Wohnberechtigungsschein haben, aber nur 6,8 Prozent des aktuellen Bestandes Sozialwohnungen sind, dann weiß man, dass die Lage ernst ist.“ Es fehlten aktuell 187 500 Sozialwohnungen, und Jahr für Jahr fielen weitere Bestandswohnungen aus der Sozialbindung.

Zum Anspruch, Urbanität für alle zu gewährleisten, betreibe die GAG auch Begegnungsstätten und inklusive Wohnangebote. Für Nachverdichtungen bestehe in den meisten Siedlungen der GAG allerdings kein großes Potenzial. „Wir haben schon vieles in den 2000er Jahren überarbeitet, damals hauptsächlich durch Abriss-Neubau“, erklärte Klaus Möhren. „Wir haben geprüft: Wo geht noch was dazwischen? Da ist aber heute leider nicht mehr viel übrig.“ Es sei in der Innenentwicklung ja auch wichtig, bestehende Freiräume zu erhalten und zu qualifizieren, um Lebensqualität zu schaffen und Biodiversität zu fördern.

Grüne Lungen für die Stadt

Diese Anforderungen formulierte auch Prof. Ulrike Böhm von der Universität Stuttgart an den öffenlichen (Grün-)Raum. Sie identifizierte vier Aufgabenstellungen: gesundheitsfördernde Funktionen, soziale Teilhabe, klimagerechtes Bauen und Erhalt der Biodiversität. Umgenutzte Verkehrsflächen, leerfallende Gebäude und neue Anlagen für die Regenwassernutzung seien heute Potenziale, die es für neue Grün- und Freiräume in der Stadt qualitätvoll zu gestalten gelte.

Als konkretes Beispiel zeigte Prof. Böhm die „Superblocks“ in Barcelona: Hier wurden je neun Wohnblöcke für den regulären Verkehr gesperrt; die Straßen wurden für alternative Nutzungen umgestaltet, Kreuzungen zu Treffpunkten für Anwohnerinnen und Anwohner umgebaut, asphaltierte Straßen durch halbdurchlässige Oberflächen ersetzt, die sich selbst begrünen können. „Ein stark belasteter Verkehrsraum konnte so zu einem lebendigen Treffpunkt für das Quartier weiterentwickelt werden“, unterstrich Landschaftsarchitektin Ulrike Böhm.

Beim Schumacher-Quartier in Berlin-Tegel werde ein Konzept für Regenwasser-Speicherungs-, Versickerungs- sowie Verdunstungsflächen geplant. „Nicht einfach, denn es fehlen noch planerische Vorbilder“, meinte Prof. Böhm. Hier sei jeweils viel Überzeugungsarbeit bei Auftraggebern, aber auch bei den Genehmigungsbehörden zu leisten.

Ein weiteres, richtungsweisendes Projekt sei das SECS 24 in Sao Paulo (Brasilien). Hier wurde ein ehemaliges Möbelkaufhaus im Herzen der Stadt zu einem multifunktionalen Ensemble umgebaut, mit Handel im Erdgeschoss, Kultur, Wohnen und Arbeiten in den mittleren Ebenen sowie einem Sportbereich mit Schwimmbad auf dem Dach.

„All diese Beispiele können nicht große Freiflächen und Parks ersetzen“, betonte Prof. Ulrike Böhm. Es werde heute oftmals viel zu klein geplant. „Wir müssen in der Stadtplanung und bei neuen Quartieren grundsätzlich darauf achten, dass offene Freiräume mitgeplant werden“, lautete ihr Appell an den Berufsstand.

Intermodale Mobilität

Strategien für den öffentlichen Raum und Mobilität entwickelt der Architekt und Stadtplaner Stefan Bendiks. „Der öffentliche Raum macht die Stadt aus und ist der Fokus unserer Arbeit“, bekräftigte Bendiks, der mit seinem Büro „Artgineering“ in Brüssel arbeitet. Zentrales Ziel für den Umbau unserer Städte müsse es sein, das individuelle Kraftfahrzeug aus dem Stadtraum herauszunehmen, das unproportional viel Raum im Vergleich zu allen Alternativen verbrauche - „und zwar egal ob als Verbrenner, E-Mobil oder selbstfahrendes Vehikel“, unterstrich Bendiks. Hier in Projekten Überzeugungsarbeit zu leisten, sei ein anspruchsvoller Prozess und nicht einfach. „Wir haben oft Gegenwind, denn die Menschen haben das Gefühl, dass ihnen Privilegien - wie Parkraum - weggenommen werden.“ Als praktische Beispiele zeigte Stefan Bendiks zwei Projekte des eigenen Büros.

Beim Workshopverfahren für den Plärrer-Platz in Nürnberg, einem großen Kreisverkehrsplatz am Rande der Stadt und Ausdruck der autogerechten Stadt, schlug das Büro Artgineering vor, „einen Transitraum mit Verweilqualitäten zu schaffen, der den Übergang von einer Modalität in die andere mehr als angenehm macht.“ Das Projekt wurde aber nicht realisiert.

Das Projekt „Belle-Vue-Park“ in der belgischen Stadt Leuven hingegen konnte realisiert werden: Hier wurde eine breite Straße rückgebaut und der gewonnene Raum neu als Park mit ausgestaltetem Grünstreifen von der Häuserzeile abgetrennt; stattdessen verläuft vor der Häuserfront ein kombinierter Fuß- und Radweg. Ein großer Fortschritt sei erreicht, resümierte Stefan Bendiks, wenn die Menschen sagen würden: „Manchmal ist das Auto eine wunderbare Alternative zum Fahrrad.“

Vulnerable Gesellschaft

Tendenzen der Stadtentwicklung unter dem Eindruck der Corona-Pandemie skizzierte Prof. Dr. Heinz Bude. Der Soziologe von der Universität Kassel ging zunächst auf den „Zauberbegriff Resilienz“ ein. Dieser beschreibe die Fähigkeit, flexibel zu reagieren, notwendigen Schutz gewährleisten zu können und dabei handlungsfähig zu bleiben. „Die Pandemie hat deutlich gemacht, dass wir körperliche Wesen sind und - weitgehend klassenlos - vulnerabel sind“, stellte Dr. Bude heraus.

Was unsere Städte ändern werde, sei eine „gewisse Deglobalisierung“, die sich bereits in der „Re-Regionalisierung von Zuliefererketten“ sowie beim Reiseverhalten zeige; zudem der Trend zu Häuslichkeit und Kontaktvermeidung.

Auch der fortschreitende Klimawandel werde nachhaltige Auswirkungen zeitigen, wobei der Begriff „Klimakrise“ falsch sei, „da die Entwicklung irreversibel ist“, so Prof. Bude. Der Mittelstand wachse weltweit an - mit verheerenden Folgen für das Klima. Und zugleich werde perspektivisch bis zum Jahr 2050 aber die Weltbevölkerung schrumpfen. „Ich beobachte eine Spaltung in der Gesellschaft, in der Pandemie wie in der Frage der Klimakrise: Es gibt diejenigen, die apokalyptisch reagieren; die sagen, man kann da gar nichts mehr dran machen. Und es gibt die, die sich adaptieren.“ Städte seien traditionell die Orte, in denen über diese Fragen verhandelt werde; in denen darüber befunden werde, wie wir gemeinsam leben können und wollen.

Den Architekten und Stadtplanern schrieb der Soziologe ins Stammbuch, sie müssten sich „paktfähig“ verhalten. Erfolgreiche Transformationen seien in der Stadt nur möglich, wenn interdisziplinär gearbeitet und kollaboriert werde.

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