Festvortrag zur Ausstellung „Fußball-WM 2006: Architektur der Arenen“

Festvortrag: Von der Arena bis zum Superdome

Anlässlich der Vernissage zur Ausstellung „Fußball-WM 2006: Architektur der Arenen“ am 6. April hielt Gerhard Matzig, leitender Redakteur der Süddeutschen Zeitung, einen Festvortrag im Haus der Architekten. Matzig ging darin der Frage nach, welche gesellschaftliche Relevanz den neuen Stadienbauten und den Projekten der Freizeitarchitektur insgesamt zukomme. Wir dokumentieren die viel beachtete Rede in Auszügen:

13. April 2006von Gerhard Matzig

„Dominant haben sich die 12 WM-Stadien in den öffentlichen Blick gemengt. Von Hamburg bis München, von Köln bis Leipzig: Die Arenen, neu erbaut oder umgebaut und ausgebaut - sie sind Werbeträger für Motorola oder OMV, für Toshiba oder eine Zeitschrift des Goethe-Instituts. Selbst Grundig weiß die Arenen zu konterkarieren: Unter dem Logo „Lieber Sofa als Stadion“ posiert eine reizende ältere Dame am heimischen Herd vor einem Obstkuchen und sagt: „Ich liebe Fußball-Live-Übertragungen. Solange ich sie mit meinem Grundig jederzeit stoppen und starten kann.“ Zu sehen ist aber auch in dieser Anti-Werbung das Motiv Stadion. Zu sehen sind stets als Bannerträger: Rasen, Ball, Linien, Publikum, Begeisterung. Und natürlich: la Ola – die Welle.    

Fußball ist ubiquitär   

Der Fußball hat gewonnen. Überall. Und sogar ohne Weltmeisterschaft. Das belegen schon die Zahlen: Der Deutsche Fußballbund zählt 6,2 Millionen Mitglieder, darunter 850 000 Frauen und Mädchen. Etwa sechs Millionen Bundesbürger sitzen jeden Samstag vor dem Fernseher, wenn in der ARD die Zusammenfassung der Spiele aus der Bundesliga zu sehen ist. Über zwei Millionen sind darüber hinaus Kunden beim Pay-TV, das live überträgt. Um die 400.000 Fans pilgern Wochenende für Wochenende in die Stadien. (…)   

Ein gigantisches, megalomanes Stadion als Utopie größtmöglicher Öffentlichkeit: Das ist bislang der Höhepunkt einer weltweiten Fußballberauschtheit, die uns womöglich nur vorläufig im kleineren Maßstab auch jene Stadien beschert hat von denen es heißt, sie seien die „Kathedralen des 21. Jahrhunderts“. In diesem Begriff wird deutlich, dass die populärste Bauaufgabe der Gegenwart, das Stadion und die Arena, offenbar gesellschaftliche Fragen abbildet, die über frühere Diskussionen um Ort, Finanzierung oder Form längst hinausweisen.   

Diese Bauwerke scheinen vielmehr eine weitere Bedeutungsebene jenseits tradierter Sport- oder Versammlungsstätten aufzuweisen. Das macht sie so strittig. Das macht sie so besonders. Das macht sie so vital. Und das gibt den Architekten durchaus eine neue Dimension gesellschaftlicher Verantwortung. Denn das, was dem einen vorkommt wie eine Kathedrale des 21. Jahrhunderts, kann für den anderen gleichfalls zur Glaubensfrage geraten. Auch in negativer Hinsicht.   

Wer sich all die höchst emotional geführten Debatten um neue Arenen, aber auch um Flughäfen, Bahnhöfe, Messen oder Erlebniswelten betrachtet, der begreift, dass solche Bauten gerade deshalb in besonderer Weise verantwortlich sind, eben weil sie in besonderer Weise zeichenhaft sind für die Gesellschaft des 21. Jahrhunderts. Bauten der Mobilität und der Versammlung sind die neuen öffentlichen Räume einer neuen Zeit.    

Orte des transzendentalen Erlebens   

Es ist also alles andere als ein Zufall, dass uns diese Bauten so beschäftigen, dass sie zu Leserbriefen oder Kongressen herausfordern, dass sie gefeiert oder gefürchtet oder, wie gegenwärtig im Haus der Architekten, ausgestellt werden. Sie besitzen das Potenzial, bisherige Raum-Kultur-Zuschreibungen umzucodieren. Es ist deshalb nicht einmal falsch, sie als „Kathedralen“ zu bezeichnen. So wenig falsch wie es auch ist, Arenen im angloamerikanischen Raum als „Domes“ zu bezeichnen: also als im Grunde spirituelle Orte.  

Und tatsächlich: Sind diese Räume in gewisser Weise nicht geradezu transformatorischen, ja transzendentalen Gesellschaftserlebnissen geschuldet? Finden darin nicht immer auch Rituale des Glaubens statt? (...) Auf alten niederländischen Gemälden und Stichen des 16. Jahrhunderts sind die Innenräume der Kathedralen oft wie städtische Markt- und Spielplätze illustriert: als laute, vitale, nützliche und Gemeinschaft stiftende Orte. Nichts anderes wollen die Kathedralen des 21. Jahrhunderts sein: Spielstätten des Gesellschaftlichen. Foren. Kommunikationsplätze. Und auch: Marktplätze. Es wäre nämlich naiv, nicht zu sehen, dass es in diesen neuen Kathedralen nicht auch und gerade um die Gesetze der Ökonomie geht. Die Stadien sind Orte der Macht. Und so sehen sie auch aus. Der Allianz-Arena, rot und blau leuchtend, nähert man sich über einen leicht ansteigenden Hügel. Albert Speer junior spricht denn auch von „reinster Monumentalarchitektur“. (...)  

Und wenn in der Allianz-Arena zu München das erste deutsche Spiel der Weltmeisterschaft 2006 nach einem überraschenden 3:0 beispielsweise noch als schamhaftes 3:5 verloren geht, dann wird man die Verantwortung wem geben? Den Sitzplätzen, den Sitzplatzkarteninhabern, den Sitzplatzarchitekten und überhaupt der ganzen Fußball-Evolution. Diese ist nämlich dafür verantwortlich, dass Stadien wie die „Rudi-Pinkert-Kampfbahn“ in Dresden, vormals bekannt als „Sportplatz der Transformatoren- und Röntgenwerker“, die „Plumpe“ in Berlin und das „Tivoli“ in Aachen zum Beispiel zur Allianz-Arena, zur AOL-Arena oder zur Arena „AufSchalke“ mutiert sind. Wobei man wissen muss: Der ganze Streit um Stehkultur kontra Business Seats, um Südkurven contra Vip-Logen und um „Glückauf“-Gesänge contra gute Laune vom Band, die ganze Kontroverse also um Stadion-Tradition und Arena-Moderne ist keineswegs neu.    

Auch der Fachschrift „Der Fußball“ war ja seinerzeit in Dresden, als es so glücklich gegen Ungarn ging, die Zuschauernähe „angenehm“ und einen Hinweis wert. Wer jetzt also, da aus den weitläufigen, großzügigen Stadien allerorten präzise kalkulierte und dramatisch inszenierte Arenen werden, der Fußballkultur hinterhertrauert, der muss sich klar machen, dass der Fußballkultur immer schon kräftig hinterhergetrauert wurde. Diskussion gab es stets.    

Spiegel der Gesellschaft   

Was ja auch niemand verwundern kann: Wie keine andere Sportart spiegelt der Fußball auch die politischen, soziologischen und ökonomischen Verhältnisse der Gesellschaft wieder. Der Ort, an dem Fußball gespielt und geguckt wird, ist also immer auch Topos – und der Raum rund um den Anstoßpunkt ist immer auch Streitpunkt. (...) Irgendwann werden auch die fahrbaren Rasenteppiche, die Aida-Vorstellungen und die Hexenkesselstrategien verdammt alt aussehen. Die Zukunft unserer Stadien kommt aus den USA, wo die „Superdomes“ fast nur noch aus medial hochgerüsteten Zwingburgen, also aus Bytes und Bites bestehen. Virtuelle, vielleicht sogar interaktive Spielformen werden dem Spiel vor allem dort gefährlich werden, wo die Virtuosität des klassischen Spiels und die Realität des klassischen Fans gefragt wären. So melancholisch wie uns heute die Bilder längst vergangener Holztribünen angucken, werden wir vielleicht auch einmal auf die Ruinen diverser Arenen blicken. Der Ball ist schließlich rund.

Der Sport spiegelt eben - wie jedes andere gesellschaftliche Phänomen auch - die Entwicklung der Moderne. Und diese Metamorphose, dieser Marathonlauf durch die Geschichte: Das haben auch die Sportstätten erfahren - vom Tempelbau zum Superdome, vom antiken über das antikische zum ikonischen, ja zum virtuellen Stadion. Das Stadion - aber auch: das Terminal, die Erlebniswelt und der Freizeitpark: Das sind die  neuen Orte der Gemeinschaft und als solche schon längst angekommen in jener Gegenwart, welche Sinnstiftung auch im sportlichen Highlight oder im Pop-Konzert erfährt. Und man muss es der Gesellschaft keineswegs vorwerfen, wenn sie die gemeinsame Heilsbotschaft vom Jenseits gelegentlich eintauscht gegen ein Glaubensbekenntnis an ein seliges Diesseits, das vielleicht nicht der Ewigkeit aber beispielsweise neunzig Minuten gewidmet ist.   

Es ist also vollkommen in Ordnung, wenn es nach jenen Dekaden, in denen bevorzugt Kirchen, Universitäten oder Museen gebaut wurden, nun an der Zeit scheint, auch Stadien zu errichten und neu zu erfinden - auch wenn es sich dabei um die Kathedralen der Spielkunst und um solche des Kommerzes handelt. Auch Fußballstadien - gerade sie: denn sie sind weithin sichtbar und stadträumlich prägend - sind demnach architektonische Behältnisse, in denen sich die Interessen aller sammeln.

Nur darf man eines nicht vergessen: Wer die neuen Spielstätten auch jenseits des Sportes oder des Events als kulturelle Träger und kulturell aufgeladene, öffentlich wirksame Raumgeschöpfe sieht, der ist eben dieser Öffentlichkeit zutiefst verpflichtet. Der bekannte Satz, wonach die Architektur die Öffentlichste aller Künste sei, bekommt angesichts mancher Arenen oder Erlebniswelten eine zusätzliche Relevanz.

Denn die Branche der künstlichen Welten boomt. Fast täglich werden neue Themenparks eröffnet. In Dubai, am Rande der Wüste also, wird der größte Skihang der Welt errichtet - unter einer Kuppel. Und in Israel denkt man immer mal wieder über Pläne nach, in der Nähe von Armageddon, dem heutigen Megiddo, wo der Bibel zufolge die letzte Schlacht zwischen Himmel und Hölle ausgetragen wird, einen Historienpark zu errichten. Mit Hilfe von Lasershows soll dort das Weltende inszeniert werden. Aber, und damit will ich meinen Rundgang vom Bolzplatz über die Arena bis zum Weltende beschließen, aber auch das Weltende, sollte es im Stadion inszeniert werden, dauert selten mehr als 90 Minuten. Und geht schlimmstenfalls danach in die Verlängerung.  

Gerhard Matzig ist leitender Redakteur der Feuilletonredaktion der Süddeutschen Zeitung.

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