Oder gar eine Antwort auf eine Frage, die niemand gestellt hat?

New Urbanism = Old Urbanism light?

Der Begriff New Urbanism teilt Diskussionsrunden häufig unmittelbar in konträre Lager. Die einen prognostizieren mit Hinweis auf dessen neotraditionalistische Architekturleitbilder den unmittelbaren Untergang, andere wiederum warnen: New Urbanism sei eine sehr lebendige „Reformbewegung aus Amerika“, die der städtischen Zersiedlung endlich Einhalt gebiete.

18. Januar 2005von Ulrich Hatzfeld

Die Erwähnung des Begriffes New Urbanism teilt Diskussionsrunden häufig unmittelbar in konträre Lager. Die einen prognostizieren mit Hinweis auf dessen neotraditionalistische Städtebau- und Architekturleitbilder den unmittelbaren Untergang, zumindest aber die Amerikanisierung der europäischen Baukultur. New Urbanism sei Städtebau à la Disney - und der Schritt zu „Gated Communities“ und konsequenter sozialer Segregation sei dann eigentlich nur konsequent. Andere wiederum warnen: New Urbanism sei eine sehr lebendige „Reformbewegung aus Amerika“, die der städtischen Zersiedlung und sozialen Entmischung endlich Einhalt gebiete: Er ziele auf eine Architektur und einen Städtebau, der die Bedürfnisse der Nachfrager tatsächlich ernst nehme. Eine Diskussion, die auf Anregung der Landesinitiative StadtBauKultur NRW auch in Nordrhein-Westfalen geführt wird.Fest steht: die Prinzipien und die Projekte des New Urbanism provozieren und polarisieren. Doch was ist die Ursache dafür, dass diese so emotionslos konzipierten Siedlungen so viele Emotionen erzeugen? Vielleicht deshalb, weil dieses neue Städtebau- und Architekturprogramm (zumindest in Deutschland) nahezu unmittelbar Kernbefindlichkeiten von Architekten und Stadtplanern berührt: Was ist davon zu halten, wenn sich der New Urbanism streng an den Wünschen der Bürger/Kunden orientiert? Wie nah darf ein kreativer Geist den Denkweisen von Investoren und Bauherren kommen? Und schließlich: kann man es verantworten, Häuser und Städte zu bauen, die - wie es Hans Adrian zuweilen sagte - so aussehen, „wie Heino singt“?

Jenseits dieser Grundsatzdiskussion hegt jedoch kaum jemand Zweifel daran, dass die Siedlungen und Projekte des New Urbanism auch in Europa große ökonomische Erfolgsaussichten haben; darauf deuten nicht zuletzt die bereits realisierten Beispiele hin, vor allem in Holland und Deutschland (z.B. Karow-Nord in Berlin, Kirchsteigfeld in Pots-dam). Offenbar sind die simpel arrangierten und multiplizierten Architekturzitate des New Urbanism für die Kunden kein Problem. Im Gegenteil: nach einer Periode, in der beim Bauen von Wohnungen häufig ökonomische Kriterien und eine möglichst schnelle Eigentumsbildung dominierten, wächst offenbar die Sehnsucht nach neuen baulichen Formen und Bildern – auch wenn die Formen und Bilder vielleicht nur die alten sind.

Betrachtet man die gegenwärtige Auseinandersetzung mit dem New Urbanism in Deutschland, zeigt sich eine eigentümliche – und zugleich gefährliche – Spaltung in eine Diskussions- und eine Handlungsebene. Einerseits weist die Architektur- und Städtebautheorie schlüssig nach, dass der New Urbanism „in Europa überflüssig“ und ein gestalterischer Rückfall in vormoderne Zeiten sei. Auf der anderen Seite entwickelt der New Urbanism als „Zukunftsmarkt“ eine nahezu magische Anziehungskraft auf die Bau- und Wohnungswirtschaft. Wenn sich diese Trennung zwischen theoretischer Hinrichtung (im Feuilleton) und praktischer Umsetzung (im Immobilienteil derselben Zeitung) fortsetzt, steht zu erwarten, dass sich der New Urbanism schnell durchsetzt. Man sollte also möglichst bald eine Haltung gegenüber dem Konzept des New Urbanism entwickeln und über dessen Übertragbarkeit nach Europa reden. New Urbanism als kritisches Potential

Seine Kraft zieht der New Urbanism aus der Kritik der nordamerikanischen Stadtentwicklung – insbesondere deren Tendenzen zum gigantischen Flächenverbrauch bzw. zur Zersiedlung („urban sprawl“), zur Anonymisierung bzw. Heterogenisierung von Wohnquartieren sowie zur Dominanz des Autoverkehrs. Diesen als durchgängig negativ empfundenen Haupttrends stellt der New Urbanism eine Strategie gegenüber, die auf den Grundelementen einer neuen (vernetzten) Regionalplanung („Regional City“), einer Stärkung bzw. Ergänzung der Vorortsiedlungen und einer Erneuerung von Stadtkernen basiert; diese Elemente bilden ein Netzwerk der Aufwertung und ökologischen Erneuerung von Städten. Hauptziel ist dabei, der Fortsetzung der urbanen Zersiedlung und der damit einhergehenden sozialen Entmischung entgegenzuwirken. Dabei steht häufig der Begriff der Nachbarschaft („Neighborhood“) als urbanistische Keimzelle und relevante Entwicklungseinheit im Mittelpunkt des Handelns. Mit seinen Forderungen nach kleinteiliger Nutzungsmischung, einer Neuentdeckung bzw. Aufwertung des öffentlichen Raumes und einer Zurückdrängung des Autos steht der New Urbanism in der Tat in direktem Widerspruch zur vorherrschenden Realität in nordamerikanischen Städten.

Fachlich und strategisch gibt sich die nordamerikanische New Urbanism-Bewegung extrem kompakt. Sie basiert im Wesentlichen auf der im Jahre 1996 entwickelten „Charta des New Urbanism“, die auf wenigen Druckseiten zentrale Prinzipien dieses Städtebauansatzes zusammenfasst. Diese Charta  greift zunächst die kritischen Aspekte der gegenwärtigen Stadtentwicklung auf und fordert eine neue Regionalplanung („Großstadt-Regionen“), neue Nachbarschaften sowie den Schutz des städtebaulichen Bestandes. Im Weiteren geht es um die Schaffung vielfältig nutzbarer gemischter Nachbarschaften, um die Bevorrechtigung von Fußgängern gegenüber dem Autoverkehr, um baulich-räumlich definierte und allgemein zugängliche öffentliche Räume und gemeinschaftliche Einrichtungen, um die Bestimmung urbaner Räume durch Architektur und Landschaftsplanung usw. Schließlich werden „Prinzipien zur Orientierung von Kommunalpolitik, städtischer Entwicklungspraxis, Stadtplanung und Umweltgestaltung“ entwickelt, die sich auf die Handlungsebenen „Region“, „Nachbarschaft“, „Block“, „Straße“ und „Gebäude“ beziehen.

Ein weiterer Erfolgsfaktor der nordamerikanischen New Urbanism-Bewegung besteht in deren leistungsfähigen Multiplikationsstrategien. Inhalte und Methoden des New Urbanism werden in jährlichen Abständen in interdisziplinär besetzten Kongressen kommuniziert und damit vervielfältigt. Diese Kongresse sind keine Fachkongresse im traditionellen Sinne: Sie integrieren neben den Protagonisten des New Urbanism explizit auch deren mögliche Gegner; sie führen Designer und Architekten unmittelbar mit Investoren und Sozialwissenschaftler mit Projektentwicklern zusammen. So entsteht ein schillerndes Geflecht zwischen einer innovativen Reform- und Beteiligungsstrategie auf der einen und schlichter Vermarktung auf der anderen Seite.

Zu den positiven Anstößen des New Urbanism gehören schließlich auch die im Zusammenhang mit dieser Strategie entwickelten Modelle zur Bürgerbeteiligung („Charette“). Diese mehrstufige, komplexe und zuweilen basisdemokratische Beteiligungsform findet inzwischen auch in der Bundesrepublik mehr und mehr Verbreitung.

Zweifellos verfügt die Konzeption des New Urbanism über ein besonderes Potential. Zum einen besitzt sie eine Kraft, die fast allen Erneuerungsbewegungen inne wohnt. Zum anderen beeindruckt der New Urbanism durch seine Einfachheit: Es bedarf nur weniger und für fast jeden nachvollziehbarer Grundregeln für das Planen und Bauen. Was von den Menschen, die berufsmäßig problematisieren und differenzieren, nicht selten belächelt wird, ist vielleicht die eigentliche Stärke dieses Konzeptes: einfach, allgemeinverständlich, marktfähig – und dennoch emotional. Eine innovative Städtebaukonzeption für Europa?

Aus europäischer Sicht stellt sich der New Urbanism natürlich ganz anders dar: „Die positiven Ansätze und Ziele des New Urbanism stellen primär den Versuch dar, planerische Grundgedanken aus den USA einzuführen, die in Europa selbstverständlich sind.“ In der Tat erinnern viele Prinzipien des New Urbanism an Formeln einer längst vergangenen Städtebaudebatte. Wirklich neu ist an Forderungen wie nach Nutzungsmischung oder der Pflege des öffentlichen Raumes hierzulande wohl tatsächlich nichts.

Vollkommenes Unverständnis erweckt in der europäischen Fachdiskussion im Regelfall die gestalterische Ausformulierung des New Urbanism. Die architektonische Retro-Orientierung in Verbindung mit antiquierten städtebaulichen Entwicklungsfiguren lässt vielen einen kalten Schauer über den Rücken laufen. Auf die ästhetischen Probleme der Nachmoderne mit einer totalen gestalterischen Innovationsverweigerung zu reagieren, negiert nicht nur die Geschichte, sondern ist auch perspektivlos. Bei einer weniger gestalterisch-wertenden Betrachtung wäre zumindest die Frage zu beantworten, wie denn die Projekte des New Urbanism in 30 Jahren aussehen mögen.

Aber dennoch greift die forsche Behauptung, dass der New Urbanism eine nordamerikanische Reformbewegung für eine Reform sei, die in Deutschland objektiv „nicht gebraucht“ werde, nicht weit genug. Denn erstens hat Europa, das sich viel auf seine Hochkultur einbildet, auch die nordamerikanische Breiten- und Alltagskultur „nicht gebraucht“, sie aber dennoch übernommen. Zweitens sind die neuen Beteiligungsverfahren des New Urbanism mindestens diskussionswürdig. Und drittens adressiert der New Urbanism ein breites Interessensspektrum. Das betrifft zum einen das marktrelevante Interesse von potentiellen Nutzern bzw. Bauherren. New Urbanism verspricht die Erfüllung der Bedürfnisse nach Sicherheit, Vertrautheit, sozialer Definition und Abgrenzung sowie nach dem Schutz der Familie. Dieses Interesse korrespondiert mit dem der Bau- bzw. Wohnungswirtschaft bei der Suche nach Markt- und Vermarktungsstrategien. In problematischen Marktsituationen ist das nichts als konsequente Marktlogik. Eine ähnliche Reaktion auf ein wachsendes Marktsegment ist bei den Städten und Gemeinden zu unterstellen. Im interkommunalen Wettbewerb um Bevölkerung und Bauvolumen werden die Städte auf nachgefragte Wohn- und Siedlungsformen setzen.

Dem steht gegenüber, dass der New Urbanism als eine primäre „Neubaustrategie im Freiraum“ zu der Lösung der tatsächlich relevanten Stadtentwicklungsprobleme in Deutschland nahezu nichts beiträgt. Was sagt der New Urbanism, wenn zum Beispiel im Land Nordrhein-Westfalen

- in 20 Jahren rund eine Million Menschen weniger leben werden
– und sich damit die Wohnungsnachfrage dramatisch verändert?
- in absehbarer Zeit rund ein Drittel der Bevölkerung älter als 60 Jahre sein wird
– und städtebaulich periphere Siedlungsgebiete bald zu Problemgebieten werden könnten?
- Perspektiven für über 50.000 ha Brachflächen gesucht werden
– und das bei einem strukturell und demographisch bedingten Rückgang der Flächennachfrage.
- ca. 2,5 Mio. Einfamilienhäuser vorhanden sind
- von denen ein nicht geringer Teil einer ungewissen Zukunft entgegengeht.

Nun wäre es unfair, vom New Urbanism eine Generalantwort auf diese und weitere städtische Entwicklungsfragen zu erwarten. Ein Beitrag zu deren Lösung jedoch wäre dennoch erwartbar.  

Umgang mit dem New Urbanism: Ignorieren oder Umarmen?

New Urbanism bleibt ambivalent. Auf der einen Seite steht die Faszination eines neuen geschlossenen Konzeptes mit eigener Formen- und Bildersprache, das darüber hinaus mit einer starken Marktunterstützung rechnen kann. Auf der anderen Seite gibt es berechtigte Bedenken, ob diese Konzeption mit den mitteleuropäischen Architektur- und Städtebautraditionen kompatibel ist. Angesichts dieser Ambivalenz variieren die Vorschläge, wie denn nun mit dieser Strategie umzugehen sei, zwischen „Verbot“ und „Umarmung“.

Es wird wohl nicht gelingen, den New Urbanism in Deutschland schlicht zu ignorieren – das hat bereits bei anderen „nordamerikanischen Erfindungen“ wie Shopping-Centern, Verbrauchermärkten, Freizeitparks und Multiplexkinos nicht funktioniert. Der Versuch, bestimmte Formen des Bauens einfach zu verbieten, dürfte wohl ebenso scheitern. Selbst wenn sich für ein solches Verbot eine parlamentarische Mehrheit fände, wäre seine Durchsetzung ausgesprochen schwierig.

Vielfach wird deshalb vorgeschlagen, Projekte des New Urbanism „im europäischen Sinne“ zu qualifizieren und an moderne Gestaltungsstandards heranzuführen. Auch an der Realitätsnähe dieses Vorschlags kann man Zweifel haben; zumindest sind entsprechende Qualifizierungsstrategien bei anderen „marktgängigen Formaten“ gescheitert – man denke etwa an innerstädtische Einkaufszentren oder Lebensmittel-Discounter.

Wesentlich mehr Perspektive dürfte vor dem Hintergrund der geringen Reichweite der bisher geschilderten Strategien haben, vor allem über die „Stärken des New Urbanism“ nachzudenken und diese mit Strategien zu verbinden, die zu tatsächlich neuen Architektur- und Städtebauqualitäten führen.

Im ersten Schritt bedarf es dafür einer Verbreiterung der öffentlichen Diskussion über Architektur und Städtebau. Die in diesem Zusammenhang relevanten Instrumente und Strategien (Wettbewerbe, Ausstellungen, Prämierungen usw.) sind bekannt, aber immer noch deutlich zu wenig angewandt – vor allem in ihrer Orientierung auf breite Bevölkerungsschichten.

Darüber hinaus bedarf es neuer Kooperationen: zwischen Architekten und Investoren, zwischen Bauherren und Stadtplanern, zwischen Marketingfachleuten und Ökologen. Denn Innovationen im Denken und im Bauen entstehen erfahrungsgemäß primär am „Rand“ etablierter Denkrichtungen und Wissenschaften. Aus dem Zusammenhang einer solchen gesamthaften Sicht des Planungs- und Bausektors können dann vielleicht auch Fragen wie die folgenden beantwortet werden:

- Warum gibt es keine Versuche, eine „Charta des Städtebaus und der Architektur in Nordrhein-Westfalen“ Anfang des 21. Jahrhundert zu entwickeln?
- Warum gibt es – fünf Jahre nach der Internationalen Bauausstellung Emscher Park
- kein Modellbauprogramm der Wirtschaft, der Städte und des Landes, das die objektiv veränderten Ansprüche an das Zusammenleben und das Wohnen adressiert?
- Warum gibt es keinen neuen Anlauf der Bürgerbeteiligung und -mitwirkung in der Stadtplanung und in der Architektur?

Die Landesinitiative StadtBauKultur Nordrhein-Westfalen ist eine Plattform und eine Spielfläche, um eine solche Diskussion über perspektivische Architektur in Nordrhein-Westfalen zu beginnen – mit neuen Projekten, mit neuen Partnern und mit neuer Begeisterung. 

Dr. Ulrich Hatzfeld leitet im Ministerium für Städtebau und Wohnen, Kultur und Sport des Landes Nordrhein-Westfalen die Gruppe „Stadtentwicklung, Wirtschaft, Struktur- und Standortpolitik“.

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