Patient Innenstadt - Therapie Denkmalpflege

Unter den durch Corona bedingten Einschränkungen konnte die Jahrestagung der Fachgruppe Städtebauliche Denkmalpflege 2021 in Präsenz und mit großem Echo in der Gebläsehalle des Industriedenkmals Henrichshütte in Hattingen stattfinden. Die Rolle der Innenstädte in einer sich durch die Folgen von Online-Handel und Pandemie stark wandelnden Konsumwelt wird vielfach diskutiert. Statt aber nur über Funktionen zu sprechen, stellte die Fachgruppe Städtebauliche Denkmalpflege den Baubestand in den Fokus, das baukulturelle Erbe, das durch Leerstände und Mindernutzungen bedroht ist.

25. November 2021von Dr. Gudrun Escher, Fachgruppe Städtebauliche Denkmalpflege

In der Gastgeberstadt Hattingen habe sich die schon in den 1960er Jahren eingerichtete Fußgängerzone, aber auch das innerstädtische Kaufhaus bewährt, berichtete Bürgermeister Rainer Sommer in seiner Begrüßung. Thomas Schürmann vom Ministerium für Heimat, Kommunales, Bau und Gleichstellung des Landes NRW, verwies in seinem Grußwort darauf, dass die Innenstadt schon lange ein „Patient“ sei; das Land habe mit umfangreichen Fördermaßnahmen zur Stärkung der Innenstädte reagiert. Die Therapie heute könne nicht allein mit, aber auch nicht ohne Denkmalschutz erfolgreich sein. Allerdings sei die Anpassungsfähigkeit für Umnutzungen Voraussetzung für den Erhalt. Kultur müsse im Zentrum jeder Stadtentwicklung stehen, und der öffentliche Raum, der immer mehr als ein Marktplatz gewesen sei, mache den Wert der europäischen Stadt aus.

Akteursallianzen und dritte Orte

Christian Huttenloher, Generalsekretär des DV, nahm den Faden auf mit Verweis auf das Positionspapier zur Baukultur von 2020. Die Neue Leipzig Charta habe das Dialogprinzip als Vorbild für Akteursallianzen in den Innenstädten etabliert. In ortsbezogenen Ansätzen müssten mehrere Ebenen zusammen gedacht werden - für die grüne Stadt, die produktive Stadt und die gerechte Stadt. Neue „dritte Orte“ mit gemischten Nutzungen sollten gemeinwohlorientiert sein, ohne die Wirtschaftlichkeit aus dem Blick zu verlieren.

Der Blick auf die Genese von Städten durch Prof. Dr.-Ing. Karsten Ley, „hochschule 21“ in Buxtehude, verdeutlichte den permanenten Wandel der Innenstädte in ihrer Körnigkeit mit Maßstabssprüngen und tiefgreifenden Veränderungen, seit das Bauen im 19. Jahrhundert industrialisiert wurde und der Effizienzgedanke zu wachsender Bebauungsdichte führte. Mit dem Erhalt von Innenstädten werde die materielle Quellenlage für Stadtgeschichte erhalten, deshalb sei städtebauliche Denkmalpflege so wichtig. Die „Therapie“ Fußgängerzone habe Innenstädte erst zur dominanten Einzelhandelszone gemacht, woran heute der „Patient“ Innenstadt krankt. Eine gute „Anamnese“ müsse die Morphologie bewusst machen im Zusammenspiel von Gestalt und Raum.

Substanz und Historie

Auf die einführenden Vorträge, die den Blick auf die perspektivische Stadtentwicklung einerseits und die Herausforderung für die Denkmalpflege andererseits richteten, folgten drei Vortrags- und Diskussionsblöcke unter der Moderation von Dr. Martin Bredenbeck, Dr. Gudrun Escher und Walter Ollenik.

Im Block I stand die Frage, wie Lebendigkeit und Identität durch Denkmäler gestärkt werden können, im Fokus. Regine Hannappel von der Stadt Hattingen und Richard Röhrhoff von der Stadt Essen brachten aus unterschiedlichen Perspektiven ihre Erfahrungen ein. Die monotonen Einzelhandelslagen mit ihren Schaufenstern schaffen keine Wohlfühlatmosphäre, das ergaben Befragungen in Essen. Es fehle in der traditionellen Einkaufsstadt das emotionale Zentrum. Menschen brauchen Orte, die sie kennen und lieben. Dies ergänzte Irene Wiese von Ofen aus dem reichen Fundus ihrer internationalen Erfahrungen. Authentizität ergebe sich nicht nur aus der Substanz des Gebauten, sondern auch aus der Bedeutung von Orten in einer „joint vision“ der Menschen. Wer sie einbezieht, kann auf eine hohe Akzeptanz bauen. Allerdings: nur Bewahren des Überkommenen sei kein Erhalt. In der Diskussion stellte sich heraus, dass in den Überlegungen zur Innenstadtbelebung die gegensätzlichen „Bilder“ sehr heterogener Bevölkerungsgruppen bisher kaum Beachtung finden und bauliche Veränderungen meist nur einem globalen Mainstream folgen.

Perspektive der Immobilienwirtschaft

Der immobilienwirtschaftlichen Perspektive widmete sich Block II am Nachmittag mit einer Einführung durch Andreas Schulten, Generalbevollmächtigter von bulwiengesa. Eine wesentliche Erkenntnis daraus: Die Niedrigzinspolitik der vergangenen Jahre habe dazu beigetragen, die Bodenpreise explodieren zu lassen und dies wiederum zu dem aktuellen Missverhältnis zwischen Kosten und erzielbaren Mieten in den Erdgeschosszonen. Eine Lösung könne die Kompensation im Quartier darstellen. Aber neu entwickelte Quartiere verschärften mit ihren Erdgeschossnutzungen den Wettbewerb um den Bestand in den Innenstädten. Die bisherige Konsumgesellschaft habe sozial stark integrativ gewirkt. Diese gesellschaftliche Homogenität bestehe nicht mehr. Neue Managementansätze sollten Kommunen, Wirtschaft und Zivilgesellschaft vernetzen. Wesentliche Treiber für den Erhalt von Bestandsgebäuden und deren Um- und Weiternutzung sei sowohl die Identifikation mit dem Ort und seinem Umfeld als auch die Schonung von Ressourcen, darin waren sich die Akteure in der Diskussionsrunde einig. Häuser, die die Menschen „mögen“, so eine Aussage von Stefan Kutscheid, Faco Immobilien, stellten dauerhaft einen Wert dar und fänden immer wieder angemessene Nutzungen. Thomas Binsfeld, Landmarken AG, und Olaf Geist, Bachem Immobilien GmbH, ergänzten die wichtige Rolle des Bestandes aus Gründen der Ressourceneffizienz und Nachhaltigkeit.

Probleme „hausgemacht“?

Im Schlusspanel beschäftigte sich der Stadtplaner Rolf Junker, Junker + Kruse Stadtplanung, noch einmal mit dem Phänomen der Fußgängerzonen. Sie waren der Anlass zum Bau von Umgehungsstraßen und Parkhäusern und seien heute „Ladenhüter“, deren Situation dadurch noch verschärft worden sei, dass innerstädtische Shoppingcenter nicht nur die Verkaufsflächen, sondern auch die zurückzulegenden Wege verdoppelt hätten. Die Probleme seien demnach weitgehend hausgemacht. Internethandel und Corona wirkten nur als Brandbeschleuniger. Rolf Junker stimmte der Anregung von Wiese von Ofen zu, alternative Finanzierungsmodelle zu entwickeln, etwa über Bürgerfonds. Daraus könnten Umbauprämien gezahlt oder Mietnachlässe gewährt werden, um die gestiegenen Kosten für Umbau und Umnutzung zu decken.

Originelle Ideen für den Bestand

Die Praxisbeispiele verdeutlichten eindrucksvoll, welche kreativen Möglichkeiten ein unverstellter Blick auf Bestandsgebäude öffnet wie die „Neuen Höfe“ in Herne des Investors Landmarken AG, die als Coverbild das Leitmotiv der Tagung lieferten. Die Vielfalt von Nutzungsoptionen, die aufgegebene Kaufhäuser zu bieten haben, kam in den Projekten des Masterstudiengangs an der RWTH Aachen unter Leitung von Prof. Anne-Julchen Bernhardt anschaulich zum Ausdruck. Vor der Realisierung steht die Umwandlung der Hauptverwaltung der Telekom in Bochum. Dort begann der Denkprozess mit einem – ungebetenen – Vorschlag des Architekturbüros Farwick + Grote und einer Bürgerbefragung: Stellt euch die Innenstadt ohne Einzelhandel vor – was bleibt dann? Jetzt entsteht dort das „Haus des Wissens“ mit VHS und einer UniverCity als Anker der Hochschulen in der Innenstadt plus Markthalle – ein offener „dritter Ort für alle“, mit anspruchsvoller Architektur, so berichtete Dagmar Stallmann als Vertreterin der Stadt Bochum.

Integrative Strategien für überzeugende Zukunftsbilder

In ihrer Zusammenfassung benannte Prof. Christa Reicher für die Fachgruppe Städtebauliche Denkmalpflege noch einmal die zentralen Herausforderungen, welche die Jahrestagung eindrücklich zu Tage gefördert hat: Die Innenstadt braucht mehr denn je kreative Allianzen und integrative Strategien, die überzeugende Zukunftsbilder einer sich permanent verändernde Innenstadt aufrufen. In diesen emotionalen Visionen müssen der schützenswerte Bestand und die Denkmäler als wertvolle Konstanten mit ihrer identitätsstiftenden Prägekraft Platz finden, als auch eine Offenheit für Multifunktionalität, Unkonventionelles und neue Formen der Finanzierung bestehen. Wie dieses spannende Thema mitverschiedenen Kommunen weitergedacht werden kann, stellte Marie Enders mit dem Aufruf „Patient Innenstadt“ dar.

Die interdisziplinär aufgestellte Fachgruppe Städtebauliche Denkmalpflege beschäftigt sich mit dem „Gedächtnis“ der Stadt, dem Stellenwert der historischen Bausubstanz für die Identität der Stadt heute und die Stadtentwicklung von morgen. Ihre jährlichen Tagungen zu aktuellen Themenstellungen richten sich an Lehre, Forschung und Planungspraxis gleichermaßen.

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