
Shared Space in NRW
Mehr Aufenthaltsqualität in den Städten, weniger Belastung durch den Autoverkehr – Aspekte wie diese werden in der Stadtplanung immer bedeutsamer. Der Shared Space-Ansatz könnte dazu beitragen, diese Ziele zu verfolgen. Doch er scheint nach einer Hochphase zu Beginn der 2000er Jahre wieder in Vergessenheit zu geraten. Zu Recht?
Löwenzahnblüten, die den Asphalt aufsprengen. Erst eine, dann zwei, dann wird die ganze Straße zum Blütenteppich. Wer in den 1980er Jahren aufgewachsen ist, dem hat sich sehr wahrscheinlich der berühmte Vorspann der Kindersendung Löwenzahn eingeprägt. Die Botschaft: Die Stadt gehört nicht den Autofahrern allein. Weniger Blech und mehr Leben sollen her – gern auch mit kreativen Mitteln.
40 Jahre später stehen die Zeichen in der modernen Stadtentwicklung mehr denn je auf Grün. 77 Prozent der Deutschen leben in Städten und erleben vor allem in den Großstädten eine zunehmende Flächenknappheit. Dass der Straßenbau noch immer ein Drittel des Flächenverbrauchs ausmacht, wird zunehmend kritisch gesehen, zumal die Belastung durch den motorisierten Individualverkehr dadurch nicht weniger wird. Der Wunsch nach attraktiven öffentlichen Räumen mit hoher Aufenthaltsqualität wächst. Auch die Aufteilung der Städte nach Gebieten des Wohnens, Arbeitens und der Freizeit, die zur Verödung ganzer Abschnitte geführt hat, gilt nicht mehr als zeitgemäß. Gewünscht wird eine nachhaltige Stadtplanung für lebendigere Städte.
Welches Verständnis von öffentlichem Raum ist nötig, damit neue städtische Lebensqualität entsteht? Ein Konzept, das sich mit der Transformation von öffentlichem Raum beschäftigt, ist der Shared Space-Ansatz. Doch gerade der schien in den vergangenen Jahren zunehmend in Vergessenheit zu geraten. Grund genug, sich genauer damit zu beschäftigen, welche Rolle Shared Spaces in der nordrhein-westfälischen Stadtplanung derzeit spielen und welche Erfahrungswerte es bereits gibt.
Gleichberechtigung aller Verkehrsteilnehmer
Beim Shared-Space-Ansatz handelt es sich genau genommen um eine Planungsphilosophie, die in der Regel folgende Aspekte umfasst: Im Shared Space sind alle Verkehrsteilnehmer gleichberechtigt, vom Autofahrer bis zum Fußgänger, vom Kind bis zum Senior. Restriktive Regeln, Ampeln und Beschilderungen werden zu Gunsten von Kommunikation und Intuition aufgegeben. Dies basiert auf der Überzeugung, dass Unsicherheit zu mehr Aufmerksamkeit führt, oder dass eine gut sichtbare Schule eher zur Verkehrsberuhigung beiträgt als ein Hinweisschild. Dieser ursprünglich vom niederländischen Verkehrsingenieur Hans Monderman entwickelte Ansatz galt zu Beginn des neuen Jahrtausends nicht nur als mutig und radikal. Er galt auch als Möglichkeit, den Autoverkehr an stark frequentierten Knotenpunkten zu reduzieren und die Lebensqualität aller Stadtbewohner zu verbessern. Es soll ein natürlicher Verkehrsfluss entstehen, der ein entspanntes und aufmerksames Miteinander ohne Hierarchien ermöglicht. Grundlegend gilt: Öffentlicher Raum soll gemeinsam genutzt werden und nicht exklusiv einer Gruppe von Verkehrsteilnehmern vorbehalten sein.
Typische Gestaltungselemente des Shared Space sind üppige Grünflächen, Aufenthaltsbereiche, Farbleitsysteme und Barrierefreiheit. All das sind Aspekte, die auch oder gerade heute von einer modernen Stadtplanung verlangt werden. Dennoch hat sich der Shared Space bislang überwiegend in den skandinavischen Ländern durchgesetzt. Neben Monderman wird heute der dänische Stadtplaner Jan Gehl mit mutigen Konzepten für lebendigere und grünere Städte verbunden. Seine Planungskonzepte – etwa für Kopenhagen – regen die Menschen dazu an, wieder mehr zu Fuß zu gehen oder mit dem Rad zu fahren. Auch Jan Gehl nennt die menschenfreundliche Stadt als sein Ideal. Nachhaltige Städte des 21. Jahrhunderts sollten sich nach seinem Verständnis dadurch auszeichnen, dass sie lebhaft, sicher, nachhaltig und gesund sind. Sie sollten ein attraktives Umfeld für Fußgänger und Radfahrer schaffen, wodurch automatisch wieder mehr Leben in den urbanen Raum käme.
Erfahrungen mit deutschen Pilotprojekten
Anfang der 2000er Jahre gab es – gefördert durch Mittel der Europäischen Union – verschiedene interessante Shared Space-Projekte. Unter anderem wurde im niedersächsischen Bohmte ein erster deutscher Modellversuch unternommen. In Brühl entschlossen sich die kommunalen Stadtplaner aus eigenem Antrieb heraus, einen Shared Space zu schaffen. Dort initiierte der Bau eines Einkaufszentrums in der Innenstadt die Frage, wie der Übergang zur Fußgängerzone am Knotenpunkt Brühler Stern neu gestaltet werden kann. An dieser Stelle treffen fünf Straßen versetzt aufeinander, bis zu 7500 Fahrzeuge passieren die Stelle innerhalb von 24 Stunden, darunter zahlreiche Busse. Im Jahr 2006 wurde der Bereich von einem Kreisverkehr zu einem befahrbaren Platz mit Aufenthaltsbereichen umgestaltet. Statt einer Asphaltdecke wurde ein mehrfarbiges Pflaster gewählt. Ein rotes Pflasterband beispielsweise markiert die Übergänge in verkehrsberuhigte Bereiche. Gitterförmige Muster weisen Laufrichtungen und grenzen überfahrbare von nicht überfahrbaren Bereichen ab. Ulrich Kalle, Fachbereichsleiter für Mobilität und Verkehr bei der Stadt Brühl, zieht eine positive Bilanz: „Unser Shared Space funktioniert. Allerdings ist die Voraussetzung für den Erfolg, dass es viele Fußgänger gibt, die sich durchsetzen. Es darf erst gar keine Diskussion darüber entstehen, dass alle gleichberechtigt sind.“
Der Aufenthalt von Fußgängern ist im gesamten Bereich des Brühler Sterns möglich, allerdings werden die Fußgängerströme durch Gitterlinien im Pflaster dazu angeleitet, an bestimmten Stellen zu kreuzen. Gleichzeitig wird der Autoverkehr durch Poller und Abstelleinrichtungen für Fahrräder kanalisiert und die Fahrbahn verengt. Diese verengten Stellen und Fahrversätze verlangsamen den Verkehr, ohne dass eine Beschilderung oder Zebrastreifen nötig sind. „Wir brauchen die selbsterklärende Straße“, sagt Kalle. „Man muss aus dem Bauch erspüren können, wie man sich zu verhalten hat.“
Die Gleichberechtigung aller Verkehrsteilnehmer ist seiner Einschätzung nach am Brühler Stern gelungen – auch deshalb, weil die umliegenden Straßen verkehrsberuhigt oder Tempo-30-Zonen sind. „In Städten wie Köln und Essen, wo die Fußgängerzone plötzlich von einer Hauptverkehrsstraße abgeschnitten wird, wäre das kaum umzusetzen“, ergänzt der Brühler Verkehrsplaner.
Duisburg mit sechs Shared Spaces
Was braucht es für einen gut funktionierenden Shared Space noch? „Mutige Planer, mutige Vorgesetzte und mutige Politiker“, sagt Georg Puhe. Der Dezernatsleiter für Stadtentwicklung und Umwelt bei der Stadt Duisburg kann auf eine Erfahrung mit insgesamt sechs Shared Spaces zurückblicken. Über die Landesgrenzen hinaus bekannt wurde die Umgestaltung des Opernplatzes, einem stark frequentierten Platz im Bereich des Theaters. Ziel der Stadt war es, das Theater, das bisher durch eine vierspurige Straße vom König-Heinrich-Platz getrennt war, in die Gestaltung einzubeziehen und näher an die City heranzubringen. Alle störenden Barrieren zwischen Platz und Theater wurden beseitigt. „Entstanden ist daraus der Opernplatz, eine einheitlich gestaltete Fläche zwischen Theater und König-Heinrich-Platz. Er ist seit 2007 in Betrieb mit den allerbesten Erfahrungen“, fasst Georg Puhe zusammen. Seit dem Ausbau sind die KfZ-Verkehrsmengen etwa um ein Drittel zurückgegangen, und es gibt weniger Staus als vorher. Dennoch bleibt die Innenstadt vollumfänglich erreichbar.
Der Shared Space am Opernplatz entstand unter anderem aus einer intensiven Diskussion in Duisburg um eine neue, nachhaltige Stadt-entwicklungsstrategie. 2010 entschied man sich, fünf weitere Plätze in Duisburg umzubauen. „Mehr Urbanität für die Stadtteile war das Ziel, bessere Begegnungsmöglichkeiten im Stadtteil und Barrierefreiheit die Planungsaufgaben“, erläutert Georg Puhe. Eine der Erfahrungen, die seitdem in den Shared Spaces gesammelt wurden: Jeder Shared Space ist anders und hat seine eigenen Knackpunkte. Georg Puhe: „Die Akzeptanz hängt von den Rahmenbedingungen ab. Am Opernplatz ist der ‚Kulturwechsel‘ gelungen, im Stadtteil Hamborn verführen die großen Flächen immer wieder zum Parken, in Rheinhausen ist Schritttempo schwierig einzuhalten.“
Auch in Brühl gibt es noch Nachbesserungsbedarf, was den so genannten „Parkdruck“ anbelangt. Denn zum Shared-Space-Konzept gehört auch der weitgehende Verzicht auf Parkflächen, um keine Sichtbehinderungen zu schaffen. „Wir wollen das Blech von der Straße bekommen und versuchen gerade eine Umerziehung durch günstigere Tarife im Parkhaus der Einkaufsgalerie“, berichtet Ulrich Kalle aus Brühl. In Duisburg hält Georg Puhe in der Anfangsphase eines Shared Space neben einer guten Informationspolitik auch Sanktionen für ratsam, um ein Umdenken einzuläuten.
„Kulturwandel“ weg vom Auto notwendig
Die Frage, ob die an Schilder und Restriktionen gewohnten Deutschen überhaupt für unregulierte Flächen gemacht sind, begleitet die Debatte um Shared Spaces von Beginn an. In Aachen etwa wurde vor dem Auditorium der Technischen Universität ein geplanter Shared Space nicht vollständig umgesetzt, weil es verkehrsrechtliche Bedenken gab. Wie wird im Falle eines Unfalls die Schuldfrage geklärt, wenn ein Verkehrsbereich keine Beschilderung aufweist? In Duisburg und Brühl wurden die betroffenen Bereiche als verkehrsberuhigte Bereiche ausgewiesen. Noch immer widersprechen sich Einschätzungen, wie Shared Spaces verkehrsrechtlich eingeschätzt werden können, und ob sie überhaupt ein rechtliches Problem darstellen.
Und wie geht es mit den Shared Spaces weiter? Möglicherweise kommt es in NRW zu einer kleinen Renaissance, wenn auch nicht immer in der reinen Lehre. So plant die Stadt Düsseldorf derzeit die Einrichtung von fünf „Mischverkehrsflächen“. Für die Hochstraße in Urdenbach und die Steinhauerstraße in Benrath sollen in diesem Jahr Planungen vorgelegt werden. Die Umgestaltung vom reinen Straßenraum zur Mischverkehrsfläche erfolgt überwiegend im Rahmen von nötigen Sanierungen. Auch in Neuss und Soest wurden bei der Planung neuer Quartiere Mischverkehrsflächen vorgesehen. Allerdings: Die Grundbedingungen des Shared Space sind erst erfüllt, wenn der Autoverkehr nicht länger Vorrang hat. Ein Unterfangen, vor dem viele Gemeinden offenbar nach wie vor zurückschrecken. Oder wie es Georg Puhe aus Duisburg formuliert: „Nach 60 Jahren Vorherrschaft des KfZ in den Städten fällt der Umbau sehr schwer. Es ist ein Kulturwandel nötig.“
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