Kommentar: Öffentliche (T)Räume

Viele Dinge unseres Alltags haben sich seit Beginn der Corona-Pandemie grundlegend verändert. Umso wichtiger ist es, öffentliche Räume zu schaffen, auf denen Menschen sich wohlfühlen; die aber auch als politische Foren einer immer vielfältigeren Gesellschaft wieder verstärkt Bedeutung gewinnen werden.

17. September 2020
Dipl.-Ing. Architektin BDA Susanne Crayen
Dipl.-Ing. Architektin BDA Susanne Crayen - Foto: AKNW

Liebe Kollegin, lieber Kollege!

„Bitte berühren.“ - Haben Sie in den letzten Monaten auch schon einmal an der Ampel davor zurückgeschreckt, die Sensortaste zu bedienen, um „Grün“ anzufordern? Viele Dinge unseres Alltags haben sich seit Beginn der Corona-Pandemie so grundlegend verändert, dass wir uns fragen müssen, welche langfristigen Konsequenzen wir ziehen müssen – vor allem im Städtebau. Wenn wir alle weniger reisen, uns mehr zu Fuß, mit dem Rad oder dem ÖPNV in der Stadt bewegen, weniger klassische Büroräume nutzen - was macht das mit der europäischen Stadt? Zumal in Zeiten, in denen die die klassische Einkaufsstadt immer schneller auf virtuelle Marktplätze abwandert.

Was man deutlich spüren kann, ist das große Bedürfnis der Menschen nach persönlichem Kontakt und Austausch. Wenn zu unserer jüngsten „Kammer vor Ort“-Veranstaltung 100 Mitglieder in die Stadthalle Mülheim kamen, um mit großem Abstand und ohne abschließendes Get-together doch im kollegialen Kreis beisammen zu sein, dann ist das nur eine von vielen Beobachtungen dieser Art, die zeigen: Wir benötigen Räume, die ein sicheres Treffen ermöglichen. In denen Gemeinschaft erlebbar wird.

Auch im Stadtraum lässt sich diese Beobachtung an jedem Tag und vor allem an Wochenenden wiederholen. Ob auf Düsseldorfs Partymeile, auf den Freitreppen am Rheinufer in Köln oder auf Plätzen bei uns in Bielefeld: Wir benötigen öffentliche Räume, auf denen man sich treffen und sicher beisammen sein kann. Die Bundesstiftung Baukultur hat ihren im Sommer erschienenen Jahresbericht unter das Leitthema „Öffentliche Räume“ gestellt. Sehr zu recht, denn seit der Etablierung der „Agora“ im antiken Griechenland gehört der zentrale Platz in der Stadt zu den identitätsstiftenden Merkmalen der „polis“ - mit vielfältigen Funktionen, die bis heute von entscheidender Bedeutung sind: als Kult- und Marktstätte, als Forum der öffentlichen Kommunikation und des politischen Austausches, als Ort, der für alle Bürgerinnen und Bürger gleichermaßen zugänglich ist. Interessanterweise verbinden sich heute virtuelle Räume wieder stark mit realen Räumen: Die inzwischen abgeebbte Flashmob-Bewegung, die durch Corona zumindest temporär verdrängten „fridays for future“-Demonstrationen, die aktuellen Großkundgebungen in Belarus organisieren sich zwar zunächst über das Netz, entfalten aber ihre Breitenwirkung und Durchschlagskraft erst durch das Zusammentreten von Menschen im Stadtraum.

Betrachtet man unsere städtebaulichen Diskussionen seit der Jahrtausendwende, müssen wir als Architektinnen und Architekten und als Stadtplanerinnen und Stadtplaner vielleicht konstatieren, dass wir zu sehr die Aspekte „Marktplatz“ und „Freizeit“ in den Mittelpunkt gerückt haben und dabei verleitet waren, den öffentlichen Raum als politisches Forum und als Kommunikationsraum für alle aus den Blick zu verlieren. „Im Licht der aktuellen Entwicklungen zeigt sich noch deutlicher, wie öffentliche Räume als Innovationsbeschleuniger für die Gesellschaft wirken“, schreibt der Vorsitzende der Bundesstiftung Baukultur, Reiner Nagel, in einem Begleitschreiben zum Baukulturbericht 2020, der noch vor Beginn der Corona-Pandemie fertiggestellt worden war.

Es ist gegenwärtig in vielen Fachpublikationen und auch im Feuilleton zu lesen, dass wir die Corona-Pandemie zum Anlass nehmen sollten, unsere Lebensweise zu überdenken. Es wird unsere Aufgabe sein und bleiben, diese Appelle ernst zu nehmen und auch dann weiter zu verfolgen, wenn hoffentlich bald ein Impfstoff die schlimmsten Auswirkungen der COVID 19-Pandemie wieder eindämmen wird. Die Aufgabe lautet, öffentliche Räume zu schaffen, auf denen Menschen sich wohlfühlen; die aber auch als politische Foren einer immer vielfältigeren Gesellschaft wieder verstärkt Bedeutung gewinnen werden.

Öffentliche Räume, in denen Menschen interagieren und sich sicher bewegen können, sei es in pandemischen Zeiten oder im alltäglichen Verkehr. Wenn wir uns schon nicht berühren dürfen, sollten zumindest die Räume uns berühren. Unsere Aufgabe ist es, solche Träume von öffentlichen Räumen zu realisieren.

Es grüßt Sie herzlich

Ihre Susanne Crayen

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