Kammer vor Ort in Mülheim: Baukultur aus regionaler Perspektive
Es war die erste Veranstaltung mit rund 100 Teilnehmern, zu der die Architektenkammer Nordrhein-Westfalen seit Beginn der Corona-Pandemie eingeladen hatte. Natürlich unter größtmöglichen Schutzmaßnahmen. So saßen die Teilnehmer im festlichen Hauptsaal der Stadthalle Mülheim an Einzeltischen, der kollegiale Austausch musste entfallen. Dennoch konnte Kammerpräsident Ernst Uhing am Ende treffend zusammenfassen: „Es hat gutgetan, dass wir uns wieder einmal persönlich treffen und austauschen konnten – wenngleich mit Sicherheitsabstand.“ Thematisch ging es in Mülheim um die regionale Baukultur am Niederrhein und im westlichen Ruhrgebiet.
Die positive Grundstimmung, von denen die Teilnehmer der „Kammer vor Ort“-Veranstaltung erfasst wurden, verstärkte Peter Vermeulen, Dezernent für Umwelt, Planen und Bauen der Stadt Mülheim an der Ruhr. „Wir legen großen Wert auf architektonische Qualität und wollen unsere Stadt attraktiv weiterentwickeln. Deshalb führen wir für größere Projekte regelmäßig Wettbewerbe oder konkurrierende Verfahren durch.“
Logistikstandort wird moderner Campus
Ein beeindruckendes Beispiel für den baukulturellen Wandel im Bereich der Handelsarchitektur lieferte der Essener Architekt Axel Koschany. Das Büro Koschany Zimmer Architekten (KZA) arbeitet seit über 30 Jahren für ein großes Discount-Handelsunternehmen, das seinen Hauptsitz in Mülheim gründete – mit einer großen „Lagerhalle mit Bürogebäude“, so Axel Koschany. In immer kürzeren Zeitabständen wurden weitere Bürobauten ergänzt, sodass heute ein vollständiger, moderner Campus entstanden ist, mit Versuchslaboren, Kantine und einer Kindertagesstätte, die unlängst mit dem „Kitapreis NRW 2020“ ausgezeichnet wurde. „Wir haben das Glück, einen Bauherrn zu haben, der nicht nur auf Kontinuität, sondern stets auch auf hohe Qualität der Architektur und des verwendeten Materials Wert gelegt hat“, resümierte Koschany und äußerte die Hoffnung, dass zunehmend Auftraggeber im Bereich Handel, Handwerk und Logistik sich offen zeigen mögen für hohe Architekturqualität.
Von der Zechenbrache zum Stadtpark
„Wir hatten es mit einer sehr intelligenten Auslobung zu tun“, begann Dr. Cyrus Zahiri vom Büro „bbzl – böhm benfer zahiri landschaften städtebau“ aus Berlin seinen Vortrag über die „LaGa Kamp-Lintfort 2020“. Denn vorgesehen sei von Anfang an gewesen, die Landesgartenschau als Stadtentwicklungsprojekt zu begreifen und insbesondere das historische Kloster Kamp mit der stillgelegten Zeche in Verbindung zu bringen. „Unser Projekt sollte Stadtteile, die sich unabhängig voneinander entwickelt hatten, verbinden und zugleich einen neuen Grünzug schaffen“, erläuterte der Berliner Architekt. Der neue Park wurde entlang des Bachlaufs Große Goorley entwickelt. Auf einer Fläche von 25 Hektar entstanden Räume für Bewegung, Erholung und Aktivitäten. „Der 70 Meter hohe Zechenturm sollte ursprünglich abgerissen werden“, erzählte Architekt Cyrus Zahiri. Glücklicherweise konnten bbzl den Auftraggeber überzeugen, das markante Bauwerk zu erhalten, das heute zum Wahrzeichen der LaGa 2020 geworden ist. Weitere Highlights, die Dr. Zahiri in ihrer Genese erläuterte, sind der 18 000 m2 große, zentrale Platz vor dem Turm, der aufgelockert und mit Wasserflächen angereichert wurde, sowie eine markante Erhebung, unter der Abraum sinnvoll verbaut werden konnte. „Wir freuen uns über den großen Besucherzuspruch“, sagte Dr. Cyrus Zahiri mit Blick auf die rund 300 000 Besucher, die bis Ende August auf der LaGa gezählt wurden.
Corona City Life
Einen eher stadtsoziologischen Angang an die regionale Baukultur unternahm Prof. Nicolas Beucker von der Hochschule Niederrhein. Er hatte mit Studierenden „Die Benutzeroberfläche der Stadt“ in Zeiten von Corona untersucht. In einer Sammlung von fotografischen Impressionen zeigte Prof. Beucker auf, wie die Menschen dazu übergehen, städtische Bereiche neu zu definieren, zu codieren oder temporär umzunutzen, wenn frühere Belegungen (etwa durch Verkehr oder intensive Freizeitnutzungen) Corona-bedingt entfallen. „Menschen entdecken die Stadt als Raum der Mitwirkung“, zog Nicolas Beucker als Fazit der Untersuchung. „Auf einmal gehen Dinge, die über Jahrzehnte undenkbar waren.“ Beispiele: Außengastronomie auf früheren Parkplätzen; Pop-up-Radwege auf Straßen; Spielflächen auf Kreuzungen; Fitnesstraining in Parks und Grünzonen u.v.m. „Ich glaube, diese Experimente können uns für die künftige Stadtentwicklung viel lehren. Wir müssen häufiger fragen: Was könnte dieser Raum sein?“, appellierte der Design-Theoretiker an die anwesenden Architektinnen und Architekten sowie die örtliche Politik.
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