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Dipl.-Ing. Susanne Crayen Vizepräsidentin der Architektenkammer Nordrhein-Westfalen - Foto: Markus Luigs

Kommentar: Wohnen - auch eine ethische Frage!

Die europäische Stadt hat sich als erfolgreiches Modell über Jahrhunderte bewährt und entwickeln können, weil sie eine gemischte Stadt war - und bleiben sollte; sowohl in der Nutzungsmischung als auch in der sozialen Mischung. Wenn heute in den Schwarmstädten die Mieten Höhen erreichen, die nicht nur einige wenige überfordern, sondern auch immer breitere Teile der Mittelschicht, beantwortet sich die Frage, ob der freie Markt alleine über den Mietwohnungsbau entscheiden sollte, von allein.

13. Oktober 2021

Liebe Kollegin,
lieber Kollege!

„Hilf uns dabei, Berlin zu retten“ - so warb die Initiative „Enteignet Deutsche Wohnen & Co“ im Vorfeld der Volksabstimmung am 26. September pointiert um Unterstützung. Die Wohnungsunternehmen ihrerseits warnten davor, die Vergesellschaftung großer Immobilienkonzerne würde zum Investitionsstopp und mittelfristig Verfall von Wohnimmobilien führen. Dass die Volksabstimmung im Bundesland Berlin mit der Bundestagswahl zusammenfiel, hat durchaus symbolische Aussagekraft: Das „Wohnen“ ist längst (wieder) zu einem politischen Thema geworden!

Die Architektenkammer Nordrhein-Westfalen weist schon lange in Gesprächen und öffentlichen Reden darauf hin, dass der geförderte Wohnungsbau in unserem Land mit Nachdruck vorangebracht werden muss. Auch wenn die Wohnungsbauförderung in Nordrhein-Westfalen seit Jahren konstant hoch ist, zeigt sich in der Praxis doch, dass nicht alle Fördermittel abgerufen werden und Neubauprojekte - bisweilen bewusst und spekulativ - verzögert werden.

Die europäische Stadt hat sich als erfolgreiches Modell über Jahrhunderte bewährt und entwickeln können, weil sie eine gemischte Stadt war - und bleiben sollte; sowohl in der Nutzungsmischung als auch in der sozialen Mischung. Wenn heute in den Schwarmstädten die Mieten Höhen erreichen, die nicht nur einige wenige überfordern, sondern auch immer breitere Teile der Mittelschicht, beantwortet sich die Frage, ob der freie Markt alleine über den Mietwohnungsbau entscheiden sollte, von allein. Und zwar ganz unabhängig von politischen Überzeugungen oder der konkreten Beantwortung von Bürgerentscheiden oder Volksabstimmungen.

Wohnen ist eben ein Grundbedürfnis, und die Frage, wer wo für wieviel Geld wohnen kann, ist nicht nur eine merkantile Frage, sondern auch eine der sozialen Gerechtigkeit. Die Architektenkammer NRW hat diesen Aspekt im Oktober in einer Vortrags- und Diskussionsveranstaltung mit dem ASG-Bildungsforum und der Evangelische Stadtakademie Düsseldorf aufgegriffen: Unter dem Titel „Lebensraum Stadt. Eine Zukunftsvision (für alle)?“ wurde aus unterschiedlichen Perspektiven beleuchtet, wie sich Stadt entwickeln wird und welche Maßnahmen ergriffen werden sollten, um urbane Agglomerationen als Lebensraum für Menschen aller Schichten und Einkommensgruppen zu erhalten. Die große Resonanz auf die Fachveranstaltung zeigte, dass das Thema (natürlich) viele Architektinnen und Architekten bewegt.

Wir werden auch in unserem nächsten „Architekturquartett NRW“, das am 18. November in Köln stattfindet, den Fokus auf „Neues Wohnen in der Stadt“ richten. Die drei Projekt, die wir interdisziplinär diskutieren wollen, zeigen ganz unterschiedliche Lösungsansätze zu der Frage, wie mehr Wohnen für viele Menschen in beliebten Städten ermöglicht werden können - vom aufgestockten Bunker über ein umgenutztes Kloster nebst Erweiterung bis zum modular geplanten „Variowohnen“, in das (zunächst) Studierende einziehen werden.

Während ich dieses Editorial schreibe, laufen in Berlin die Koalitionsverhandlungen. Der Kanzlerkandidat der SPD, Olaf Scholz, hat im Endspurt des Wahlkampfes immer wieder gefordert: „Wir müssen bauen, bauen, bauen: 400 000 Wohnungen pro Jahr – 100 000 davon gefördert.“ Er verwies dabei auf die Bauleistungen Ende der 1960 und der frühen 1970er Jahre.

Wichtig ist: Das Wohnungsthema ist in der Politik auf höchster Ebene angekommen. Es muss gebaut werden, allerdings nicht immer neu und auf jeden Fall unter Berücksichtigung der Erfahrungen, die in den letzten Jahrzehnten mit der Aufbauleistung des Baubooms der Nachkriegszeit gemacht wurden. Verantwortungsvoller Wohnungsbau braucht nicht allein Quantität, sondern auch Qualität - städtebaulich, sozial und nachhaltig!

Ich bin davon überzeugt, dass dies nicht die Quadratur des Kreises wäre. Wenn die Fachleute aus Politik und Wohnungswirtschaft, Architektur und Stadtplanung zusammenarbeiten und die richtigen Rahmenbedingungen gestalten, kann es gelingen. Ein dramatischer Rettungsappell ist dann nicht nötig, sondern der Wille, gemeinsam Zukunft zu gestalten.

Es grüßt Sie herzlich
Ihre Susanne Crayen

 

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