Nachhaltigkeit: „Uns bleibt ein Fenster von zehn Jahren“

Wer bei Neubauvorhaben eine BEG-Förderung der KfW in Anspruch nehmen will, kann seit dem Frühjahr 2022 nur noch Anträge für die Effizienzhaus-Stufe 40 mit Nachhaltigkeits-Klasse stellen. Damit wird der Erhalt des staatlichen „Qualitätssiegels Nachhaltiges Gebäude“ (QNG) für die Förderung obligatorisch.

10. Mai 2022von Christof Rose (Interview)

Die Erfüllung der Anforderungen ist über eine unabhängige Prüfung nach Baufertigstellung durch eine anerkannte Zertifizierungsstelle nachzuweisen. Zu diesen zählt u. a. die Deutsche Gesellschaft für Nachhaltiges Bauen (DGNB). Dr. Christine Lemaitre war am 17. Mai mit der Roadshow „Phase Nachhaltigkeit“, welche die DGNB gemeinsam mit der Bundesarchitektenkammer veranstaltet, zu Gast im „Haus der Architekten“ im Düsseldorfer Medienhafen und auf der Baustelle des Projektes „The Cradle“ (HPP Architekten, Düsseldorf). Anlass für ein Interview.

Frau Dr. Lemaitre, welches Ziel verfolgt die Initiative „Phase Nachhaltigkeit“?
Für das Erreichen der klimapolitischen Ziele muss das Planen und Bauen in unserem Land konsequent umweltverträglicher und nachhaltiger werden. Das ist nur zu erreichen, wenn wir die Architektenschaft in großer Breite aktiviert bekommen. Dafür werben wir im Rahmen der Initiative in Veranstaltungen und vielen Gesprächen vor Ort. Die teilnehmenden Innen-, Landschafts- und Hochbauarchitekturbüros sowie Fachplanende und Bauingenieure verpflichten sich mit der „Phase Nachhaltigkeit“, Nachhaltigkeitsthemen in ihren Gesprächen mit den Bauherren zu thematisieren, und tauschen sich im wachsenden Netzwerk über ihre Erfahrungen aus.

Wie weit ist die Branche in den letzten Jahren vorangekommen?
Eindeutig nicht weit genug! Nach dem jüng-sten IPCC-Report der Vereinten Nationen (Intergovernmental Panel on Climate Change) bleibt nur noch ein Zeitfenster von zehn Jahren, um - auf globaler Ebene - eine Trendwende beim Ausstoß von CO₂ und in der Ausbeutung unserer natürlichen Ressourcen zu erreichen. Es ist umso erstaunlicher, wieviel Kritik und Gegenwind wir dabei verspüren, unsere Fördersystematik neu auszurichten, hin zu einem ganzheitlichen Klimaschutz. Wir müssen aber endlich über wohlmeinende Worte und reine Lippenbekenntnisse hinauskommen.

Sie sind seit zwölf Jahren Geschäftsführender Vorstand der DGNB. Warum sind wir heute denn noch nicht weiter?
Die Bau- und Planungswirtschaft ist insgesamt sehr inhomogen. Auch die bisherigen Anforderungen an Gebäude waren zu eindimensional auf den Energiewert fixiert. Wir wissen immer noch nicht, wieviel Energie ein Gebäude wirklich in der Nutzung verbraucht, das ist sehr schade.
Ich bin aber sicher, dass wir viel Aufbauarbeit geleistet haben seit der Gründung der DGNB vor 15 Jahren. Damals bin ich noch in Brüssel ausgelacht worden für den Vorschlag, die Gesamtenergiebilanz eines Bauwerks zu erfassen und zu bewerten. Heute haben wir ganzheitliche und angemessene Lösungen in Form von realen Bauprojekten.

Was muss sich in der Planungspraxis nach Ihrer Meinung ändern?
Wir müssen konsequent in der „Leistungsphase 0“ ansetzen. Die exakte Bedarfsermittlung für die nachhaltige Realisierung eines Bauwerks muss ganz am Anfang stehen. Dafür brauchen wir die Kompetenz der Architektinnen und Architekten.
Ziel muss einerseits die maximale Reduktion der Emissionen für die Produktion sein, andererseits aber auch die Minimierung von Betriebsemissionen. Dazu muss das zirkuläre Planen und Bauen selbstverständlich werden. Und wir sollten noch stärker kontextbezogen und regionalspezifisch agieren.

Wie schätzen Sie in dieser Frage die Architektur-Ausbildung an den Hochschulen ein?
Ich halte es für unverzichtbar, allen Studierenden der Architektur-Fakultäten in allen Fachrichtungen ein „Modul Generalist Nachhaltigkeit“ anzubieten. Das wäre nur konsequent, denn die Anforderungen an das Planen und Bauen in Sachen Nachhaltigkeit entwickeln sich ja fort. Nachhaltiges Agieren wird zum Standard werden, jeder Architekt und jede Architektin muss das beherrschen. Aktuell ist es aber ebenso wichtig, dass wir an die aktiven Planenden herankommen, die heute am Markt tätig sind. Das zirkuläre Bauen muss auch einen Wissenskreislauf zwischen den Disziplinen umfassen.

Sind die Klimaschutzziele in der Bau- und Planungsbranche noch zu erreichen?
Ich glaube schon, dass wir noch gute Chancen haben. Unsere Branche hat viel Wissen angesammelt, wir müssen es zusammenführen und konkret nutzen.
Notwendig ist ein vernetztes Denken und Handeln. Damit kann es uns gelingen, die Menschen für ein klimagerechteres Wohnen und Arbeiten zu gewinnen. 

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