Visionen für eine progressive Provinz

Wie können wir den ländlichen Raum in NRW infrastrukturell stärken? Wie können Stadt und Land besser aufeinander abgestimmt werden? Wie können die Potenziale der „Provinz“ gehoben und das Selbstbewusstsein in den ländlichen Räumen gestärkt werden? – Mit diesen Fragen befasste sich der „Stadtplanertag 2022“ der Architektenkammer Nordrhein-Westfalen am 6. Mai in der Stadthalle Mülheim an der Ruhr.

13. Mai 2022von Christof Rose

„Nordrhein-Westfalen hat viele ländliche Räume, die wir stärker in den Fokus nehmen müssen“, betonte der Präsident der Architekten-kammer NRW, Ernst Uhing, in seiner Einführung. „Wir brauchen eine gemeinsame Entwicklung von Städten und ländlichen Gemeinden. Dazu gibt es viele gute Beispiele“, so Präsident Uhing vor rund 110 Teilnehmerinnen und Teilnehmern.

„Es gibt sie, die Provinz“, sagte Moderator Prof. Rolf-Egon Westerheide zum Auftakt der Fachtagung. Zwar lebe schon mehr als die Hälfte der Menschen auf der Welt in Städten, mit zunehmender Tendenz. „Aber was ist mit der anderen Hälfte?“ 40 Prozent der Deutschen lebten in Orten mit weniger als 20 000 Einwohner. „Müssen wir das Klagelied der wegbrechenden Infrastrukturen anstimmen, oder können wir aufzeigen, welche transformativen Kräfte es in der Provinz gibt“, fragte Prof. Westerheide. Feststellen könne man: „Das Dorf wird hip“, wie die Süddeutsche Zeitung am Tag der Veranstaltung schrieb. Die Gründe dafür lägen in neue Arbeitswelten, für viele Menschen unbezahlbaren Mieten und Immobilienpreise in den Großstädten sowie in einer Sehnsucht nach Ruhe und Natur.

Global trifft lokal

Festredner der Fachtagung war Dr. Daniel Dettling vom Institut für Zukunftspolitik in Berlin, der das Schlagwort von der „Progressiven Provinz“ mit einer Studie im Jahr 2021 geprägt hatte. Vier große Trends konnte er ausmachen, aus denen sich Szenarien für die weitere Entwicklung von Stadt und Land ableiten ließen: die Herausbildung von „Neo-Tribes“ im Sinne einer Sub-Urbanisierung; eine „Resiliente Welt“ in einer optimistischen „Wir-Gesellschaft“, die dörfliche Lebensstrukturen mit weltweiter Vernetzung verbindet. Pessimistischer waren die aktuellen Szenarien der „Totalen Isolation“ und des „Nervösen Breakdowns“ in Zeiten der Pandemie und des Ukraine-Krieges.

 Als Synthese aus den Megatrends „Globalisierung“ und des „Neo-Nationalismus“ ergebe sich die „Glokalisierung“, die auf den Faktoren Resilienz, Remote und Regionalisierung basiere. „Die Welt wird zum Dorf, und das Dort wird zur Welt“, führte Dr. Daniel Dettling aus. Die Grenzen zwischen Stadt und Land würden kulturell zunehmend verschwimmen. „Die progressive Provinz wird die Heimat der Glokalisten“; ein Trend, der sich immer häufiger auch in ambitionierter Architektursprache im ländlichen Raum ausdrücke. Eine aktuelle Umfrage unter der „Generation Z“ habe ergeben, dass je ein Viertel im ländlichen Raum, in der Klein- oder Mittelstadt oder in der Großstadt wohnen wolle. In der Gesamtbevölkerung sagten 45 Prozent, dass sie im ländlichen Raum wohnen wollten.

Zum Megatrend „Neo-Ökologie“ sagte der Zukunftsforscher Dettling: „Die Zukunft der ökologischen Erneuerung liegt im ländlichen Raum – wo sollen die Wind- und Solarparks denn sonst realisiert werden?“ Der Megatrend „New Work“ führe dazu, dass Wohnen und Arbeiten wieder – wie im vorindustriellen Zeitalter – zusammengelegt würden, ergänzt um die Dimension „Leben“, denn die Menschen hätten heute einfach mehr Zeit. Für die Stadtplanung bedeute dies: Mehr partizipative Einbindung der mündigen Bürgerinnen und Bürger: Co-Planing.

Als weiteren Megatrend definierte Dr. Dettling die fortschreitende „Individualisierung“, die Ausdruck in einer „Co-Kultur“ finde: Co-Work, Co-Living, Co-Working, Co-Mobilität, etc. „Es geht darum, individualistische Gemeinschaften zu ermöglichen.“ Nur scheinbar ein Paradoxon, so der Zukunftsforscher. Regionen, die auf Lebensqualität und Beteiligung setzen, werden nach seiner Prognose Erfolg haben. „Nennen wir diese Räume die progressive Provinz.“
Ob eine Ortschaft in den „Club der progressiven Provinz“ eintreten könne, hänge ganz entscheidend von den politischen Rahmenbedingungen und den Akteur*innen vor Ort ab.

In der anschließenden Diskussion empfahl Dr. Daniel Dettling einige neue „Instrumente für den Werkzeugkasten“ der Stadtplanung, etwa eine „Dableibenspauschale“: nicht der Auspendler solle belohnt werden, sondern derjenige, der im Dorf lebt und arbeitet. Auch Konzepte für die sinnvolle Weitergabe von Immobilien nach dem Konzept „Jung kauft Alt“ könnten hilfreich sein. Entscheidend bleibe eine gute ÖPNV-Infrastruktur, um die Räume wieder näher zusammen zu bringen.

Dorfentwicklung seit 1945

An den eindrucksvollen Vortrag von Dr. Daniel Dettling schloss sich ein ebenso umfassender Überblick über die Entwicklung dörflicher Strukturen in Deutschland seit 1945 an. Prof. Dr. Gerhard Henkel, Kulturgeograph und einflussreicher Hochschullehrer, skizzierte den Wandel der dörflichen Strukturen seit den 1950er Jahren. Er identifizierte sechs Entwicklungsphasen:
1945 – 65 habe es funktionierende Dörfer gegeben, mit lebendiger Infrastruktur, die dann um Neubausiedlungen ergänzt wurden; die Dörfer wuchsen.
In der Phase 1965 – 75 gingen dann viele Arbeitsplätze und Infrastrukturen verloren; es gab einen großen Leerstand von Gebäuden, viele kleinere landwirtschaftliche Betriebe lösten sich auf. Die angestrengten Reformen nach dem „Zentrale-Orte-Modell“, der autogerechte Straßenausbau sowie eine städtebauliche Arroganz gegenüber dem Dorf ließen die Attraktivität örtlicher Gemeinden zurückgehen. „Insgesamt eine Phase der fremdbestimmten Ortsentwicklung durch Eingriffe von oben“, fasste Prof. Henkel zusammen.
Ab 1977 änderte sich die Perspektive auf das Dort: die „Erhaltende Dorferneuerung“ wurde als Leitbild formuliert, nach dem eine behutsame Weiterentwicklung unter Einbeziehung von Bürgerinitiativen angestrebt wurde. Gleichwohl ging in dieser Phase bis 1990 weitere Substanz an Bevölkerung und Infrastruktur verloren: Schulen, Post, Polizeiposten, Handwerksbetriebe, Dorfläden, aber auch bäuerliche Bezugs- und Absatzgenossenschaften.

Endogene Potenziale nutzen!

Prof. Gerhard Henkel verwies aber auch auf positive Entwicklungen, die zeitgleich stattgefunden hätten: So habe es einen wahren Bauboom im Bereich der Sport- und Freizeiteinrichtungen sowie in Kultureinrichtungen gegeben. Auch viele kleinteilige private Dienstleistungen hätten sich im dörflichen Umfeld angesiedelt.
In der jüngsten Entwicklungsphase von 1990 – 20215 sei das „endogene Potenzial“ des Dorfes wiederentdeckt worden: registriert wurde eine Renaissance von Heimat- und Kulturvereinen, Bürgerläden und Markttreffs. „Das Hauptproblem bleibt aber die Abwanderung der jungen Leute in die großen Städte“, resümierte Prof. Henkel. Aktuell befände sich die Dorfentwicklung in einer „Phase der Unübersichtlichkeit“ - mit Migration, Klimakrise, Pandemie. Neue Leitbilder seien „Das resiliente Dorf“ und die „Regionale Baukultur“.
Jedes Dorf habe einen Kern, räumlich und historisch-kulturell. Es gelte, dieses Potenzial zu nutzen, es baulich und in kulturellen Angeboten herauszustellen und dem gefürchteten Donut-Effekt entgegenzuwirken. „Die Kraft des Dorfes ist riesengroß“, schloss der Kulturforscher Prof. Henkel seinen Vortrag. Notwendig sei eine noch intensivere Förderung der Dörfer und kleinen Gemeinden. Und die intensive Ansprache der jungen Leute: „Es gibt hier viele attraktive Arbeitsplätze – wir brauchen Euch!“ Er glaube an die Kraft des Dorfes; „das Dorf ist unkaputtbar!“

Bedeutung des „ländlichen Raumes“

„In den letzten zehn Jahren gab es keine Spiegel-Bestsellerliste, auf der nicht mindestens ein Roman zum Thema Dorf vertreten gewesen wäre.“ Mit dieser Bemerkung leitete der Soziologe und Literaturwissenschaftler Prof. Dr. Werner Nell (Institut für sozial-pädagogische Forschung, Mainz) seinen Vortrag zur „Daseinsvorsorge in ländlichen Räumen: Infrastruktur und Zivilgesellschaft“ ein. Das Thema sei beliebt; viele Menschen in Deutschland träumten von dem Gefühl einer funktionierenden dörflichen Gemeinschaft.
Dennoch sei der ländliche Raum über viele Jahre aus dem öffentlichen Diskurs weitgehend verschwunden gewesen. Dies habe mit der Industrialisierung begonnen, in deren Folge der ländliche Raum marginalisiert worden sei. Auch die Sozialforschung konzentriere sich traditionell auf den städtischen Raum, räumte der Sozialpädagoge ein.
Gleichwohl legten auch die Fakten nahe, sich den ländlichen Regionen wieder stärker zuzuwenden: 69 – 91 Prozent der Fläche in Deutschland seien (je nach Berechnungsparametern) als „ländlicher Raum“ zu kategorisieren; Hier leben 32 bis 65 Millionen Menschen. Aus sozialpädagogischer Sicht gelte es auch zu berücksichtigen, dass viele Städter in ihrer jüngeren Familiengeschichte dörflich-bäuerliche Wurzeln hätten, was ihren kulturellen Background auch heute noch präge. „Das ist ein Grund dafür, warum Bücher und Filme mit diesem Topos so beliebt sind“, analysierte Prof. Werner Nell.

Leben in „rurbanen Landschaften“

Nell erläuterte, dass er den ländlichen Raum in Deutschland lieber als „rurbane Landschaften“ bezeichne, weil heute alle Dörfer und Regionen mit dem qualitativen Anspruch urbaner Moderne gestaltet werden müssten. Der ländliche Raum entwickele sich „vom Produktionsraum zum Projektionsraum“, auf welchen die Menschen ihre Sehnsüchte projizieren könnten. Die Erwartungen an das Land seien dabei vielfältig:

  1. Übersichtlichkeit und Gestaltbarkeit des Lebensumfelds (Sozialität)
  2. Naturverhältnis (Ökologie)
  3. Nachbarschaftliche Solidarität und Anerkennung (Kom-munalität)
  4. Hauswirtschaftliche bzw. handwerkliche (Teil-)Selbstständigkeit  
  5. Gegründete Selbststätigkeit (Ökonomie)

Prof. Nell arbeitete heraus, dass er alle Thesen von „Stadt, Land, Frust“ (Haffert) für falsch halte: Das Land sei genauso differenziert wie die Stadt. „Soziale Öffnung und Pluralität finden sich hier in gleicher Weise.“ Aber es gebe viel zu tun: „Infrastrukturelle Bedarfe, anspruchsvolle Gestaltung, Abstimmung und die konsequente Stärkung von Menschen und Einrichtungen.“

Frei gedacht: Neue Siedlungsmodelle

Fünf Studierende der RWTH Aachen stellten unter Begleitung von Anne Söfker-Rieniets im Pecha-Kucha-Format neue Sied-lungsmodelle im ländlichen Raum vor. „Projekte im dörflichen Umfeld haben in den letzten Jahren zugenommen und auch unter den Studierenden an Attraktivität gewonnen“, führte Anne Söfker-Rieniets ein.

  1. „Nachhaltige Dorfentwicklung Esch“ von Thilo Loose, der Typologien für das freistehende Einfamilienhaus entwickelt hatte. Regionale Bautraditionen seien verloren gegangen und durch EFH aus dem Katalog ersetzt worden. „Wie schafft man Strukturen, die diese heterogene Entwicklung neu justieren können?“ Unter dieser Leitfrage entwickelte Thilo Loose Konzepte für die Nutzung bestehender Gebäude: Wohnhaus, Scheune, Anbau. „Wir schaffen multifunktionale, resiliente Strukturen, die den Anforderungen unserer Zeit und dem geschichtlichen Hintergrund entsprechen“, lautete die Conclusio des Masterstudenten.
  2. „Stadthausquartier in Eupen“ (Belgien) von Katja Gadziak und Eva Krings. Ziel der Arbeit war die Stärkung des Stadtkerns der kleinen Hauptstadt der deutschsprachigen Gemeinschaft in Belgien durch die Schaffung von Wohnraum für alle Alters- und Einkommensklassen auf einem Brachgrundstück in der Innenstadt sowie durch ergänzende multifunktionale Räume in der zweiten Reihe. Die RWTH-Absolventinnen sahen in der Mitte des Areals Punkthäuser mit lebendigen, autofreien Räumen vor. Dafür wurde ein Gestaltungskatalog entwickelt, der regionale Bautypologien und Materialien aufgreift. „Unser Entwurf sollte vor allem Möglichkeitsräume generieren, um Menschen in der Stadt zu halten und eine lebendige Nachbarschaft zu ermöglichen“, erläuterte Eva Krings.
  3.  „Transformation des Kraftwerkstandorts Niederaußem“ von Christine Hahnel. In dieser Arbeit ging es um die Umnutzung stillgelegter Kraftwerksblöcke in Niederaußem am Rande des Braunkohleabbaus. Nach Vorschlag von Christine Hahnel könnten die massiven Bauwerke weitgehend erhalten bleiben und neuen, gemischten Nutzungen zugeführt werden: große Hallen zum Recyclieren von Baumaterial; weitere Bereiche für kulturelle Nutzungen; weiter oben schließlich könnten Wohnungen in unterschiedlichen Größen eingebaut werden. Pufferzonen würden die drei Bereiche akustisch entkoppeln. Die ehemalige Turbinenhalle könne als neuer Ort des Zusammenkommens dienen. „Das Kraftwerk wird damit zur Ergänzung des Dorfes und zum markanten Übergang zum künftigen Landschaftspark auf renaturiertem Boden“, schloss Christine Hahnel ihren Pitch.
  4. Eva Krings und Paula Erckmann kreierten gar eine „Neue Stadt Püttweiler auf dem Garzweiler Loch“. Ziel dieses Vorschlags ist eine Modellstadt der kurzen Wege, die eng mit den umliegenden Metropolen verknüpft werden soll. Die Stadt könnte sich selbst versorgen und einen optimierten ökologischen Fußabdruck aufweisen. „Püttweiler“ würde an einem See liegen, der das Braunkohleloch in Zukunft füllen werde; das Wachstum ans und ins Wasser wird eingeplant. Vorgesehen sind drei Stadtviertel mit je spezifischen Schwerpunkten, die sich entlang der Seekante in einer Bogenfigur entwickeln.

Das Publikum des AKNW-Stadtplanertages nahm die pointiert vorgetragenen Pecha-Kucha-Präsentationen der RWTH-Studierendengruppe begeistert auf. „Unsere Disziplin steht bei der Neugestaltung des Rheinischen Braunkohlereviers vor gigantischen Aufgaben“, hob Moderator Prof. Rolf-Egon Westerheide hervor. „Es ist wichtig und ermutigend, dass sich unsere jungen Stadtplanerinnen und Stadtplaner mit dieser Generationenaufgabe intensiv befassen.“

Gleichwertige Lebensverhältnisse

Ein wichtiger Aspekt in der Diskussion um das Verhältnis von Stadt und Land ist der gesetzlich verankerte Anspruch in Deutschland, überall im Lande „gleichwertige Lebensverhältnis-se“ zu gewährleisten. „Ein Dogma, so alt wie die Bundesrepublik und tief eingeschrieben in die DNA unseres Föderalismus“, meinte Prof. Dr. Stefan Siedentop. Dieses Konzept habe dazu geführt, dass die Disparitäten in Deutschland im europäischen Vergleich relativ gering ausfielen, so der Direktor des Instituts für Landesentwicklung (ILS) in Dortmund.
Gleichwohl gebe es klare Unterschiede: Das Median-Einkommen liege in Görlitz bei 2380 €, in Wolfsburg bei 5089. Die Kinderarmut sei in Gelsenkirchen am höchsten (40 %).
Bislang sei die Bewertung der Lebensverhältnisse stark an ökonomischen Indikatoren festgemacht gewesen, was zu einer interregionalen Umverteilung von Mitteln geführt habe. An diesem System habe es schon länger Kritik gegeben, so Prof. Siedentop; vor allem eine Schwächung der starken Regionen wurde befürchtet.
Andere Fortschrittsbilder forderten mehr „Selbstverantwortungsräume“ und Handlungsautonomie sowie digitale Teilhabe; und generell ein Bild der „Vielfalt“. Seit den 1990er Jahren würden auch verstärkt Aspekte des Wettbewerbs von Konzepten (etwa bei der Vergabe von Fördermitteln der EU), der regionalen und interkommunalen Kooperationen und neuerdings auch Aspekte der Nachhaltigkeit und Resilienz einbezogen. Es fließe viel Geld in den ländlichen Raum. „Und dennoch nehmen die Menschen verstärkt vermeintliche Stadt-Land-Gegensätze wahr“, so Prof. Siedentop. Rechtspopulismus in Europa finde sich verstärkt im ländlichen Raum, weil die Menschen sich abgehängt fühlten.
„Die ländlichen Räume unterliegen tatsächlich einem höheren Transformationsstress“, diagnostizierte Prof. Dr. Stefan Siedentop. Der Ausbau der Energielandschaften, die faktische Abhängigkeit vom Auto und das weitere Schwinden der Infrastruktur führten dazu, dass Menschen sich überfordert und zu wenig beachtet fühlten.

Neue Binnenwanderung

Die jüngsten Zahlen zeigten allerdings eine neue Binnenwanderung: Seit dem Jahr 2010 wandern mehr Menschen aus Städten ab, als neue hinzukommen; und der „sehr ländliche Raum“, der über Jahre schrumpfte, erfahre eine neue Zuwanderung. „Fast alle ländlichen Räume in Deutschland profitieren davon, dass junge Familien aus den Städte wegziehen müssen – vor allem wohl aufgrund der hohen Wohnkosten“, analysierte der Direktor des Instituts für Landesentwicklung.
Echte Chancen biete die Digitalisierung: Die Möglichkeit, flexibel im Home-Office zu arbeiten, führe zu einem Zuzug aus urbanen Regionen; es kämen auch digitale Pioniere in ländliche Regionen, die neue Impulse mitbrächten. „Co-Living, Co-Working, Maker-Spaces – es entstehen neue Räume, die das soziale Miteinander in den Orten stärkten können“, beobachtet Prof. Siedentop.
Eine besondere Bedeutung komme den ländlichen Mittelstädten als „Anker“ und „Entwicklungsmotor“ zu, die Verantwortung für ihr Umland übernähmen („Zoom-Städte“, Richard Florida), neue, verdichtete Wohnangebote schaffen könnten (kleine Wohnungen fehlen oftmals in kleinen Dörfern) und in Kooperationsmodellen in Stadt-Umland-Verbünden wirken könnten (Sportstätten, Hallenbäder, Kulturangebote, Nahversorgung).
Die Kommunen sind nach Auffassung des ILS-Direktors gefordert, Flächen und Gebäude für Experimentelles und Temporäres bereit zu stellen sowie Plattformen für digitale Projekte und Vernetzung anzubieten. Wichtig sei dabei, ganz konkrete Hilfestellung bei der Nutzung des „Förderdschungels“ zu geben. „Wir müssen die kommunale Selbstbefähigung stärken, das ist ein ganz konkretes Problem. Das Potenzial ist noch lange nicht ausgeschöpft“, schloss Prof. Dr. Stefan Siedentop.

Beispiele der REGIONALE 2022

Wie das in der Praxis aussehen kann, lässt sich in diesem Jahr in Ostwestfalen-Lippe studieren. Die Leiterin der aktuell laufenden REGIONALE 2022 OWL, Annette Nothnagel, stellte das Konzept des Strukturförderprojektes REGIONALE OWL vor, das seit dem März unter dem Titel „UrbanLand“ in der Präsentationsphase ist. „Wir arbeiten an einer polyzentrischen Vernetzung in der Region“, beschrieb Annette Nothnagel das langfristige Ziel. Es gehe darum, eine neue Balance zwischen Stadt und Land zu schaffen und „Urbanität als Lebensgefühl auch im ländlichen Raum zu schaffen.“
Die Projekte der REGIONALE seien „von unten“ entwickelt und vorgeschlagen, dann aber in größere Zusammenhänge eingebunden worden. Essentiell sei die räumliche Erreichbarkeit, die durch neue, experimentelle Konzepte verbessert werde. Zu den zentralen REGIONALE-Projekten gehörten Vorhaben zur Stärkung der Ortskerne und der Quartiere; durch neue Wohnangebote, Nutzungsmischungen und attraktive architektonische Impulse. Das seien teilweise Konzepte zur Umnutzung leerstehender, stadtbildprägender Bauten, etwa des „Richterhauses“ in Nieheim, aber auch verschiedene Konversionsvorhaben auf früheren militärischen Liegenschaften sowie Ergänzungsbauten für die Wohnversorgung. Es fehlten beispielsweise in ländlichen Regionen typischerweise kleine Mietwohnungen. „Der polyurbane Raum ist ein Zukunftsmodell“, zeigte sich die Landschaftsarchitektin und Leiterin der REGIONALE OWL 2022 überzeugt.

Urbane Pioniere auf dem Land

Dem stimmte auch der Journalist und Partner einer Kreativagentur Frederik Fischer zu, der konkrete Siedlungsprojekte unter dem Motto „Neues Leben und Arbeiten auf dem Land“ anregt und Kommunen bei der Umsetzung innovativer Projekte berät. „Wir versuchen, Gruppen von Menschen in den ländlichen Raum zu bringen, die dort arbeiten können und sich zugleich sozial aufgehoben fühlen möchten“, beschrieb Frederik Fischer das Konzept von „Neulandia“.
Ein solches Projekt war der „Summer of Pionieers“. Dabei wurden in einem Wettbewerb 20 Pioniere ausgewählt, die das Landleben für sechs Monate auf Probe ausprobieren können. Als Gegenleistung engagieren sich die Pioniere ehrenamtlich für die Region. „Unsere Pioniere geben oftmals den Menschen in der Region Selbstbewusstsein wieder, das verlorengegangen schien“, berichtete Frederik Fischer.
Ein weiteres Projekt sind die „Elblandwerker*“ in Wittenberge. Die Kooperative für Arbeit, Leben und Wandel wurde von 18 Pionieren gegründet; heute umfasst die Community über 150 Menschen aus der Region. Ein weiteres Pionier-Team gründete in einem Ladenleerstand den Kultur- und Begegnungsort „Safari“, der ein multifunktionales Programm bietet; sowie das „Dschungle Büro“ für partizipative Stadtentwicklung. Insgesamt seien im Nachgang zum „Summer of Pioneers“ mehr als eine Million Euro an Fördermitteln in Projekte geflossen. „Spannend ist für mich immer wieder, wie wirkungsmächtig kleine Lösungen sein können“, erklärte Frederik Fischer. Oft bilde sich eine dynamische Gemeinschaft zwischen Menschen, die viele Jahre zuvor im selben Ort wohnten, sich aber nicht kannten.
Ein zweiter Ansatz sei das Konzept „KoDorf“, bei dem die historische Gartenstadtbewegung neu interpretiert werde. KoDörfer bestehen aus einer Ansammlung kleiner Häuser von 25 bis 80 Quadratmetern und großzügigen Gemeinschaftsflächen. Zu den Quartieren gehörten etwa gemeinschaftliche Speiseräume, ein Hofladen, Gartenflächen. „Ich kann mir damit den Traum vom Haus im Grünen ermöglichen, bin zugleich aber in einer sozialen Gemeinschaft eingebunden“, beschrieb Frederik Fischer die Grundidee, die offenbar zahlreiche Menschen begeistert. „Solche Projekte haben Strahlkraft, sodass sich weitere innovative Projekte ansiedeln – ein Wachstum wie auf einem Korallenriff“, meinte Frederik Fischer. Erste KoDörfer entstanden in Brandenburg; für 2023 ist ein erstes Projekt in Nordrhein-Westfalen in Planung: in Erndtebrück im Kreis Siegen-Wittgenstein.

Krapfen statt Donut

Zusammenfassende Gedanken kamen von Korbinian Kroiß vom Büro nonconform (Wien/Berlin). Vom Donut-Effekt zum Krapfen-Effekt, müsse das gemeinsame Ziel für viele Orte im ländlichen Raum heißen. „Erst die Füllung macht den Donut wieder zum Krapfen“, so Landschaftsarchitekt und Urbanist Kroiß. Es werde aber nicht funktionieren, einfach die Gewerbegebiete vom Ortsrand in die Mitte zu verschieben. Stattdessen empfehle nonconform, alle relevanten Gruppen in der Kommune partizipativ einzubinden: Bürgerschaft, Verwaltung, Politik und Investoren. Dazu führe das Büro nonconform in den jeweiligen Kommunen dreitägige „Ideenwerkstätten“ durch, an deren Ende der „schönste gemeinsame Nenner“ stehen müsse.
Als konkrete Beispiele präsentierte Korbinian Kroiß die Entwicklung eines Gasthaus- und Hotelkomplexes in Rottach bei Passau, sowie eine Ortskernaufwertung. „Für entscheidend für den Erfolg von Dorf- und Stadtentwicklungsmaßnahmen halten wir es, zunächst den Menschen ein Gefühl für die Bebauung zu vermitteln, sodann planerische Prinzipien spielerisch zu erläutern – und immer wieder darum zu kämpfen, alle Generationen mitzunehmen, auch die Kinder!“

Ausstellungstipp:
Das Deutsche Architekturmuseum in Frankfurt/Main zeigt noch bis zum 27. November 2022 die Ausstellung „Schön hier. Architektur auf dem Land“ – im Freilichtmuseum Hessenpark (Neu-Anspach). Info: www.dam-online.de

 

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