AKNW startet „NRW lebt.“

Die nordrhein-westfälischen Architektinnen und Architekten wollen die Städte und Gemeinden baulich fit machen für den demografischen Wandel. Die Architektenkammer NRW startete am 7. Mai in Düsseldorf die neue landesweite Aktionsplattform „NRW lebt. Planen und Bauen im demografischen Wandel“, mit der in den kommenden drei Jahren landesweit über die Folgen des Schrumpfens unserer Gesellschaft bei gleichzeitiger Alterung und konstanter Zuwanderung diskutiert werden soll. „Wir wollen vor allem gute Lösungsansätze entwickeln und als praktische Beispiele öffentlich präsentieren“, unterstrich Ernst Uhing, Präsident der Architektenkammer Nordrhein-Westfalen, beim Auftakt von „NRW lebt.“ in der Akademie der Wissenschaften und der Künste in Düsseldorf vor rund 250 Kammermitgliedern und Gästen aus Politik, Kommunen, Wohnungswirtschaft und Verbänden. Auch Schirmherr Michael Groschek, Minister für Bauen, Wohnen, Stadtentwicklung und Verkehr des Landes NRW, hob den dringlichen Handlungsbedarf hervor: „Der Umgang mit der demografischen Entwicklung erfordert eine mittel- bis langfristige Planung. Dazu brauchen wir angepasste Lösungen in den Kommunen und Regionen unseres Landes.“

08. Mai 2014von Christof Rose

Die Zahlen sprechen für sich: Im Jahr 2030 wird mehr als ein Drittel der Deutschen älter als 60 Jahre sein. Etwa sieben Prozent werden zu den Hochbetagten mit einem Alter jenseits der 80 Jahre zählen. Gleichzeitig gibt es immer weniger junge Menschen unter 18: Ihr Anteil sinkt bis 2030 auf 15,3 %. „Wir müssen unseren Wohnungsbestand heute so umbauen und gestalten, dass die meisten älteren Menschen weiterhin in ihren gewohnten vier Wänden leben können – das bedeutet einen barrierearmen oder barrierefreien Wohnungsstandard“, betonte Kammerpräsident Ernst Uhing zum Auftakt der Aktionsplattform „NRW lebt.“. Heute seien erst zwei bis drei Prozent des Gebäudebestands entsprechend ausgebaut. Auch die Nutzbarkeit des öffentlichen Raumes für Alte und Menschen mit Handicap werde ein Thema für die neue Kampagne sein, kündigte Uhing an.

„NRW lebt.“ ist als Aktionsplattform konzipiert und setzt damit auf die Beteiligung einer breiten interessierten Öffentlichkeit. In sieben Veranstaltungen, die sich auf die nordrhein-westfälischen Regionen verteilen werden, sollen – neben der barrierearmen Anpassung des Bestandes - Themen wie „Neue Arbeits- und Wohnformen für die Stadt“, „Gemeinsam leben“, „Leben auf dem Land“, „Mobilität“ und „Grüner leben“ analysiert und diskutiert werden. Auch die Frage, wie durch städtebauliche Maßnahmen zur besseren Integration von Zuwanderern beigetragen werden kann, ist ein wichtiges Thema des „Planens und Bauens im demografischen Wandel“.

Dialog von Fachleuten und Laien über Praxisbeispiele

Ein wichtiges Ziel von „NRW lebt.“ ist es, einen Dialog zwischen Fachleuten und Laien herzustellen. In der Auftaktveranstaltung stellten Lütfiye Dönoglu und Kathrin Möller von der GAG Köln das Projekt „Vingst Veedel“ vor, in dem demente ältere Menschen aus verschiedenen Kulturen in einer Wohngemeinschaft zusammen leben und entsprechend betreut werden. „Für mich als türkischstämmige Migrantin der zweiten Generation ist es ein großes Anliegen, auf die besondere Herausforderung hinzuweisen, die in der Betreuung kranker und dementer Migranten liegt. Das wird in den kommenden Jahren eine wichtige Aufgabe sein“, betonte Lütfiye Dönoglu, deren Lebenspartner in der Wohngemeinschaft im Vingst Veedel lebt.

Das Projekt „Gemeinsam Wohnen in Verantwortung“ in Düsseldorf-Gerresheim stellten Anne Leyendecker und Architekt Prof. Niklaus Fritschi vor. 26 bauwillige Menschen im Seniorenalter taten sich hier zusammen, um in einem gemeinsamen Siedlungshaus individuell zu wohnen. „Jeder ist aber dazu bereit, sich auch um den anderen zu kümmern und auch für die Nachbarschaft Verantwortung zu übernehmen“, erläuterte Anne Leyendecker, eine der Initiatorinnen des Projektes. Architekt Niklaus Fritschi hob hervor, dass das Bauwerk in einer guten Mischung aus geförderten und frei finanzierten Wohnungen bestehe. „Das ist die beste Voraussetzung für eine lebendige, gemischte Nachbarschaft.“

Die Perspektive der jüngeren Generation vertrat Jasmin Buck auf dem Podium in der Akademie der Wissenschaften und Künste. Die junge Redakteurin der Rheinischen Post verwies auf die vielfältigen Unsicherheiten, mit denen ihre Generation leben müsse: Arbeitsverträge liefen zumeist nur noch befristet, eine große räumliche Flexibilität werde erwartet und erschwere die Familiengründungsphase, die spätere Altersversorgung sei mehr als ungewiss. „Viele werden getrieben von dem Gefühl: Schaffen wir das?“, beschrieb Jasmin Buck die Befindlichkeit der jungen Generation, die sich rein quantitativ von den geburtenstarken Jahrgängen dominiert sehe.

50- bis 75-Jährige: die eigentliche deutsche Mittelschicht

Zu Recht, wie Prof. Dr. Dieter Otten darstellte. Der Soziologe aus Osnabrück stellte in einem fulminanten Vortrag Ergebnisse seiner Langzeitstudie dar, die im Kern aufzeigt, dass die Lebensphase des Alters immer weiter nach hinten rutscht. „Der Alterslimes steigt um drei bis vier Dekaden an“, fasste Otten zusammen. „Unsere Gesellschaft wird immer älter, aber zugleich sinkt die Zahl der Alten.“ Gemeint sind damit Menschen, die sich alt fühlen und tatsächlich die körperlichen Symptome des Alters aufweisen. Otten stellte dar, dass die Generation der heute 50- bis 75-Jährigen unsere Gesellschaft dominiere und dies in den nächsten 15 Jahren auch weiter tun werde. „Diese Generation bezieht 140 Prozent des Durchschnittseinkommens bzw. der Kapitalerträge und ist die eigentliche neue Mittelschicht unserer Gesellschaft“, fasste der Soziologe zusammen. Seiner Auffassung nach führe dies dazu, dass auch anders gebaut werden müsse: mehr Wohnungen in der Stadt, mehr Wohnungen für Alleinstehende, mehr Wohnungen mit ergänzenden Serviceangeboten. „Warum boomen denn die Kreuzfahrten seit einigen Jahren so stark? Vielleicht brauchen wir mehr Wohnquartiere in den Städten, die genau das AIDA-Konzept auf das Wohnen übertragen“, spitzte Prof. Otten zu.

Minister sieht neue „Stadt-Land-Problematik“

Einen weiten Bogen spannte auch NRW-Bauminister Michael Groschek in seiner Rede zum Auftakt von „NRW lebt.“ Er verwies vor allem auf die unterschiedlichen Entwicklungen in Nordrhein-Westfalen, die zu einer neuen Stadt-Land-Problematik führe. „Die ländlichen Räume werden immer mehr zu Leerstandsräumen und Problemzonen werden, in denen so mancher Wohlstandstraum zerplatzt, weil der Wert von nicht mehr nachgefragten Immobilien dramatisch verfällt“, warnte Groschek. Gleichzeitig prognostizierte er eine „Renaissance der Provinzstädte“, also der Mittelzentren und regionalen Oberzentren. „Es ist richtig, dass die Architektenkammer mit ‚NRW lebt.‘ diese Fragestellungen aufgreift und an Lösungen arbeitet“, zeigte sich der Schirmherr der neuen Aktionsplattform überzeugt. Weitere Themenfelder sah der Minister für Bauen, Wohnen, Stadtentwicklung und Verkehr des Landes NRW in der Entwicklung der Stadtzentren in Zeichen des schrumpfenden Einzelhandels. „Nach den Kirchen droht nun auch der Markt als klassisches zentrales Element der europäischen Stadt abhanden zu kommen“, sagte Michael Groschek. Er sieht in einer neuen „Multifunktionalität“ der Stadtzentren den richtigen Weg zur Lösung dieses Problems.

Mit AKNW-Präsident Ernst Uhing zeigte sich der Minister einig, dass der barrierefreie und barrierearme Umbau des Gebäudebestandes ein wichtiges Themenfeld für „NRW lebt.“ sein müsse. „Die Automobilindustrie hat mit der Erfindung der SUVs vorgemacht, wie das geht: Angebote für ältere Menschen müssen bequem, attraktiv und bandscheibengerecht sein“, formulierte Groschek und sprach damit an, dass das Thema der barrierearmen Nutzbarkeit von Wohnungen und Infrastrukturen aus dem Assoziationsfeld von Alter, Krankheit und Handicap gelöst werden müsse.

StadtBauKultur NRW

Der gesellschaftliche Veränderungsprozess wird sich in unserer gebauten Umwelt unmittelbar widerspiegeln. Das prognostizierte der Münsteraner Stadtdirektor Hartwig Schultheiß in seinem Resümee. „Innovativer Städtebau heißt oftmals heute ‚mehr Gemeinschaft‘“, meinte Schultheiß. Der generationengerechte Umbau der Städte dürfe nicht zu einer „Geriatrisierung“ führen, sondern müsse mit einem hohen baukulturellen Niveau verbunden werden. Als Vorsitzender des Vereins StadtBauKultur NRW e.V. plädierte Hartwig Schultheiß vehement dafür, die regionalen und lokalen Spezifika von Siedlungsräumen und Städten zu wahren und als Stärken weiter zu entwickeln. „Wir brauchen Städte mit Charakter, mit Spirit!“ Deshalb sei es wichtig, auch Räume offen zu lassen und städtebauliche Entwicklungen ohne festes Korsett zuzulassen. „Prozesse anstoßen und fördern: Ja!“, so Schultheiß. Festlegungen über viele Jahre oder Jahrzehnte könnten aber in die Irre führen.
Die Landesinitiative StadtBauKultur NRW ist Projektpartner von „NRW lebt.“ und fördert die Aktionsplattform konzeptionell und finanziell. Kammerpräsident Ernst Uhing dankte Hartwig Schultheiß als Vereinsvorsitzendem und dem Geschäftsführer der Landesinitiative, Tim Rieniets, für sein persönliches Engagement für „NRW lebt.“

Aktionsplattform für viele Partner

Kammerpräsident Ernst Uhing unterstrich im Rahmen der Auftaktveranstaltung in Düsseldorf noch einmal den interdisziplinären und partnerschaftlichen Ansatz der Aktionsplattform „NRW lebt.“. Die Architektenkammer NRW wolle Partner wie die Wohnungswirtschaft und die Kommunen, Mieterverbände und andere Organisationen in die Kampagne einbinden. Außerdem sind die rund 31.000 Architektinnen und Architekten, Innenarchitekten, Landschaftsarchitekten und Stadtplaner in Nordrhein-Westfalen dazu aufgerufen, gemeinsam mit ihren Auftraggebern und Bauherren Planungsideen und gebaute Beispiele dafür zu liefern, wie unsere gebaute Umwelt für diese Herausforderungen des demografischen Wandels angepasst und optimiert werden kann – sei es im Neubaubereich oder in der Sanierung des Bestandes. „Unsere Häuser und Infrastrukturen für den demografischen Wandel umzubauen, ist keine Zukunftsaufgabe, sondern eine wichtige Aufgabe der Gegenwart“, betonte der Präsident der Architektenkammer NRW.
Alle Themen und Termine unter www.nrw-lebt.de; hier finden Sie auch eine Objekt-Fotodatenbank, in die interessante, innovative und vorbildliche Bauwerke und Projekte eingestellt werden können.

Präsentationen zu den Referaten

<link file:18140 _blank download zum demografischen wandel von prof. dr. dieter>Vortrag zum demografischen Wandel von Prof. Dr. Dieter Otten

<link file:18142 _blank download zum wohnprojekt leben in>Präsentation zum Wohnprojekt "Miteinander Leben in Verantwortung, Düsseldorf-Gerresheim"

<link file:18143 _blank download zum wohnprojekt>Präsentation zum Wohnprojekt "Vingst Veedel, Köln"

<link file:18144 _blank download von hartwig vorsitzender stadtbaukultur nrw>Statement von Hartwig Schultheiß, Vorsitzender von StadtBauKultur NRW 2020

 

Zur Aktionsplattform "NRW lebt."

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