Baukultur im Ruhrgebiet: Der „weiche Standortfaktor“

Baukultur und Ruhrgebiet - zwei Worte, die noch vor wenigen Jahren eher als Gegensatzpaar denn als verbundene Begriffe verstanden wurden. Doch spätestens mit der Internationalen Bauausstellung Emscher Park ist zwischen Duisburg und Hamm ein starkes Bewusstsein für Fragen der Architektur, des Städtebaus und der Stadtentwicklung gewachsen. Ein Bewusstsein, das ein gutes Fundament für zahlreiche neue, anspruchsvolle und innovative Gebäude und Stadtentwicklungskonzepte darstellt.

17. Juni 2004von Hartmut Miksch

"Baukultur" ist ein abstrakter Begriff, der aber konkrete Auswirkungen auf das Leben der Menschen hat. Baukultur entsteht, wenn Bauaufgaben im umfassenden Sinn gelöst werden: Wenn außer den gestalterischen auch städtebauliche, funktionale, technische, wirtschaftliche, ökologische und soziale Kriterien die Planung bestimmen. Aber zur Baukultur gehört auch ganz entscheidend die Planungskultur. Es geht also nicht nur um die Qualität des Produktes, sondern auch um die Qualität des Prozesses.

Kultur ist immer das Ergebnis einer Entwicklung, sie hat mit Geschichte und Tradition zu tun. So wächst auch Baukultur über Generationen, und das Bauen spiegelt Ausdrucksformen des jeweiligen Zeitgeistes. Dies wird auch deutlich an Bauwerken, die noch vor zehn Jahren Flaggschiffe der Innovation gewesen sind wie der Wissenschaftspark Rhein-Elbe in Gelsenkirchen (Kiessler Architekten) oder die Fortbildungsakademie des Innenministeriums "Mont Cenis" in Herne (Hélène Jourdan) und die heute - im positiven Sinne - in den städtischen Alltag integriert sind. Unabhängig von der Funktionalität erfüllt Architektur hier ihre stadtbildprägende Aufgabe und ist auch über den konkreten Standort hinaus zum Identifikationspunkt geworden. Innovative Projekte nach der IBA

Inzwischen geht die bauliche Entwicklung weiter. Die neue Verwaltung von Gelsenwasser an der Kurt-Schumacher-Straße in Gelsenkirchen (Anin, Jeromin, Fitildis) steht mit ihrem energetischen wie architektonischen Konzept für das Jahr 2004. Anderes, das im Ruhrgebiet im Bau ist, weist darüber hinaus, so der neue Firmensitz für BP in Bochum (Bothe, Richter, Teherani) oder der Hochhausturm für RWE in Dortmund (Gerber Architekten), der städtebaulich zugleich auf die Landesbibliothek am Bahnhof (Mario Botta) antwortet wie auf das schon ältere Harenberg Center (ebenfalls Gerber). Was das "In-House" auf dem Terrain der Universität Essen-Duisburg am Standort Duisburg in sich birgt, ist von außen nicht zu sehen:

Das Forschungsprojekt eines intelligenten, vollvernetzten und steuerbaren Wohnhauses hat nicht nur Auswirkungen auf die Entwicklung mikroelektronischer Systeme, sondern provoziert auch Fragen nach der Sinnhaftigkeit des technisch Machbaren. Wo ist Technik hilfreich und dienlich, wo ist sie verzichtbar oder gar störend? Und wie wollen wir in der Zukunft wohnen und arbeiten?Tradition und Innovation vereinen

Die Verquickung von Vergangenheit mit Zukunft in inhaltlicher wie architektonischer Hinsicht ist immer wieder eine Herausforderung, das gilt für eine Region, die sich in einem tiefgreifenden Strukturwandel befindet, in besonderem Maße. Dass der Deutsche Architekturpreis 2001 an den Umbau des Festspielhauses in Recklinghausen (Auer + Weber) vergeben wurde, war nicht nur eine Auszeichnung der hervorragenden Architektur, sondern auch eine Würdigung für die Ruhrfestspiele, die hier ihre Heimat haben und Theatergeschichte schrieben. In ähnlicher Weise wie dort öffnet sich heute die Jahrhunderthalle Bochum den Gästen durch den Umbau der Gießereihalle zum Spielort der Ruhrtriennale (Petzinka Pink Architekten). Beide architektonischen Konzepte profitieren von Bautechnologie auf der Höhe der Zeit mit hybriden Tragwerksystemen und der Transparenz der Glashülle und spiegeln die heutigen Ansprüche an räumliche Qualitäten nach innen wie nach außen; sie sind im besten Sinne zeitgemäß.

Herausforderung Denkmalpflege

Eine besondere Aufgabe für Politik und Stadtplanung im Ruhrgebiet bleibt der verantwortungsvolle Umgang mit den technischen Baudenkmälern. Die Internationale Bauausstellung Emscher Park hat zahlreiche Zechen- und Werksgebäude mitsamt den großen Flächen, in die sie eingebettet sind, reaktiviert, saniert und den Bürgerinnen und Bürgern wieder gegeben - im konkreten Sinne als Veranstaltungsstätten und Gewerbeparks, im figurativen Sinne als Orte, die erstmals seit Jahrzehnten wieder im Bewusstsein einer breiten Öffentlichkeit eine Rolle spielen. Allerdings zeigt sich heute, fünf Jahre nach dem Ende der IBA Emscher Park, dass für verschiedene IBA-Projekte noch keine dauerhaften Nutzungen gefunden wurden, die ein Garant für den langfristigen Erhalt der historischen Stätten wären. Nur durch eine dauerhafte Nutzung bleibt historische Architektur, bleiben Denkmäler lebendig und aus städtebaulicher Sicht vital. Für das Ruhrgebiet scheint es besonders wichtig, dass die Route der Industriekultur national und international als kulturelle Bereicherung und nicht als Ausdruck einer konservierenden, in der Vergangenheit verhafteten Erstarrung wahrgenommen wird.Wohnen in der Stadt

Die Zahlen sind alarmierend: Bis zum Jahr 2015 wird das Ruhrgebiet insgesamt 200.000 Einwohner verlieren. Neueste Studien über die Wanderungsbewegungen in den neun großen Städten des Ruhrgebiets haben ergeben, dass nur ganz wenige einen Zuzug verzeichnen können, überall aber die Bevölkerung durch Sterbefälle dramatisch abnehmen wird. Andererseits stimmt es nicht, dass es sich bei den Menschen, die die Städte in Richtung Umland verlassen, in erster Linie um Häuslebauer handeln würde. Studien zeigen, dass die meisten Stadtflüchtlinge wieder eine Mietwohnung beziehen, aber ein besseres Umfeld suchen. Demzufolge wird es für die Zukunft des Ruhrgebiets von entscheidender Bedeutung sein wird, in welche Richtung die Weichen gestellt werden, ob das Wohnen in der Stadt attraktiv und bezahlbar ist und ob die stadträumliche Qualität dazu beiträgt, dass Menschen sich hier wohl fühlen.

Ein wichtiger Aspekt dabei ist das baukulturelle Erbe: Die Stadt in ihren vielgestaltigen Teilbereichen darf nicht dem Verfall preisgegeben werden. Seit den 1980er Jahren ist Vorbildliches geleistet worden bei der Erhaltung und Erneuerung der das Ruhrgebiet prägenden Siedlungen, von Eisenheim in Oberhausen bis zur Sieldung Fine Frau in Dortmund. Dass dies auch heute noch nicht selbstverständlich ist, zeigt sich an denkmalgeschützten Geschosswohnungen in Duisburg-Duissern, für deren modernisierende Erhaltung es zwar einen Architektenwettbewerb gab, die aber dennoch aus Kostengründen durch Neubauten ersetzt werden sollen. Wer Baukultur auf politischer Ebene ernst meint, muss solche Ergebnisse zu verhindern wissen. Das bedeutet allerdings nicht, dass nicht immer eine Abwägung zwischen dem wirtschaftlich Sinnvollem und dem Denkmalwert stattfinden muss. Gerade bei Wohnungen muss nachhaltiges Handeln immer auch die Frage beantworten, ob der Erhalt dauerhaft am Wohnungsmarkt eine Chance hat. Dass es auch anders geht, bewies ThyssenKrupp in Duisburg-Bruckhausen, wo heruntergekommene Wohnblöcke zu modernen Studentenapartments umgebaut wurden. Damit ist zugleich die Belebung und Verjüngung des Quartiers erreicht. Es müssen nicht immer die großen Projekte sein, auch im Kleinen konkretisiert sich gelebte Baukultur.

Kirchturmdenken überwinden!

Es ist an der Zeit, das Planen und Bauen umfassend in politischem Denken und Handeln zu verankern. Die Kommunen im Ruhrgebiet müssen endlich konsequent eine überregionale Flächennutzungsplanung realisieren, so wie es die Städte Essen, Gelsenkirchen und Bochum derzeit vormachen. Im westlichen Ruhrgebiet zeichnet sich unter der Ägide der Bezirksregierung in Düsseldorf die Bereitschaft der Städte Düsseldorf, Duisburg, Mülheim, Oberhausen und Essen sowie des Kreises Wesel ab, sich in Fragen der Ausweisung neuer Gewerbestandorte abzustimmen. Nur ein konsequentes Überwinden des tradierten Kirchturm-Denkens kann eine echte Planungs- und Baukultur entlang der Ruhr weiter wachsen lassen.

Dazu gehört auch die Stärkung und Qualifizierung der Bereiche Stadtplanung, Bauen und Denkmalpflege in den städtischen Verwaltungen. Diese dürfen nicht im Zuge von Sparmaßnahmen vernachlässigt werden. Dazu gehört die Etablierung von Moderationsverfahren mit Bürgerbeteiligung, die dann auch Konsequenzen nach sich ziehen und nicht versanden, wie im Essener Universitätsviertel geschehen. Und dazu gehören Architektenwettbewerbe und städtebauliche Wettbewerbe, deren Ergebnisse tatsächlich realisiert werden.

Der Beitrag stellt eine gekürzte Fassung eines Textes dar, den der Präsident der Architektenkammer Nordrhein-Westfalen für das Jahrbuch "Standorte 2004/05" des Kommunalverbandes Ruhrgebiet (KVR) verfasst hat.

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