"Ungers Archiv": Schatzkiste voller Architektur

Belvedere heißt die Straße, an der in den 1950er Jahren der Architekt und Architekturtheoretiker Oswald Mathias Ungers sich ein privates Wohn- und Arbeitshaus baute. Die Wohnsiedlung am Rande von Müngersdorf bildet den westlichen Stadtrand von Köln. Da das Haus durch eine hohe Hecke von der Straße abgeschirmt wird, geht man an der unauffälligen Eingangstür schnell vorbei. „UAA“ steht bescheiden auf einem kleinen Metallschild, ein Akronym für das „Ungers Archiv für Architekturwissenschaft“. Ein versteckt liegender Hot Spot für Forscher und bibliophile Architekturfreunde auf der ganzen Welt.

23. Juli 2012von Christof Rose

„Ungers hatte eine tief verwurzelte Sammelleidenschaft. Ich glaube, er hat zu jeder Zeit des Tages an Architektur gedacht.“ Sophia Ungers, jüngstes von insgesamt drei Kindern des Architektenpaares O. M. und Liselotte Ungers, führt als Vorsitzende der Ungers-Stiftung regelmäßig Besucher durch das Haus, in dem sie einen Großteil ihrer Kindheit und Jugend verbrachte. Den Grundriss für das mit einer Backsteinfassade geschützte Haus entwickelte Ungers aus den geometrischen Formen, die er grundlegend für das menschliche Maß hielt: Rechteck, Dreieck, Kreis. Entsprechend zeigt sich das Hauptgebäude aus dem Jahr 1959 als Zusammensetzung und Durchdringung verschiedener kubischer Körper, die zur Straßenecke hin durch eine abgerundete Mauer schwungvoll gefasst werden. Der Baukörper wurde im Laufe der Jahrzehnte durch kleine Anbauten zum Garten hin ergänzt, bis im Jahr 1989 ein schwarzer Kubus das Ensemble vervollständigte. Diese „Kaaba von Köln“, wie der Architekturkritiker Wolfgang Pehnt einmal treffend geschrieben hat, beherbergt die umfassende Bibliothek und den Nachlass des unermüdlichen Architekturforschers und -sammlers Oswald M. Ungers.

Rund 12 500 Bücher zu Architektur und Stadtplanung aus aller Welt und allen Epochen hat Ungers in seiner schwarzen Schatzkiste zusammen getragen. Von Vitruvs „De Architectura Libri Decem“ in der Erstausgabe von 1495 bis zum Bauhaus, von der russischen Avantgarde bis Mies van der Rohe. Neben den Architekturtraktaten bilden eine umfangreiche Sammlung über die Entstehung und Weiterentwicklung der Perspektive sowie Publikationen zur Farbenlehre Schwerpunkte.

„Ungers hat die Bücher nicht nur gesammelt, er hat sie auch als Quellen und Arbeitsmittel benutzt“, erinnert sich Anja Sieber-Albers an die Arbeitsweise des Ar-chitekten. Zu Beginn der 1990er Jahre fing sie als Architektin im Büro Ungers an. „Obwohl wir bis zu 50 Mitarbeiter waren, blieb doch der familiäre Charakter des Büros gewahrt“, berichtet die Architektin, die heute die Ungers-Stiftung mitbetreut.

Eine Atmosphäre, die Tochter Sophia Ungers bis heute pflegt. Wer am Ungers-Archiv schellt, wird von lautem Hundegebell empfangen. Die großen Hunde bleiben auch dabei, wenn der Besucher die schmalen Gänge und Treppen nutzt, um in die vielfältigen Räumlichkeiten des Ensembles zu gelangen, zu dem auch noch ein Patio und ein Garagenbauwerk gehören. 700 Quadratmeter umfasst der ursprüngliche Arbeits- und Wohnbereich, den Ungers als verkleinertes Abbild städtischer Strukturen verstand. Die Funktionstrennung in Arbeitsräume, Werkstatt, Küche, Verkehrsflächen und Wohnbereich führt dazu, dass sich das Bauwerk labyrinthisch, aber auch sehr vielfältig und einladend dem Besucher öffnet. Der frühere Bürobereich wird heute überwiegend für Ausstellungen und Veranstaltungen genutzt, ebenso der Wohnbereich in den Obergeschossen, der auch eine Dachterrasse mit weitem Blick in die Landschaft bietet.

Während das Büro- und Wohnhaus den Geist der späten 50er Jahre bewahrt hat, erscheint die später ergänzte Bibliothek als zeitloses Ungers-Werk in Reinform: Quadratischer Grundriss, symmetrischer Aufbau, die innere Raumstruktur durch Quadrat-Raster vorgegeben und bis auf die Ebene der Bücherregale fortgesetzt. Der Wunsch des Architekten nach Reinheit und Klarheit, nach Gültigkeit seines Raumverständnisses, drückt sich hier deutlicher aus als in den früheren Werken.

Die Sammelleidenschaft von Oswald Mathias Ungers erstreckte sich nicht allein auf Bücher; Skulpturen, Gemälde und Kunstwerke aller Art sind ebenfalls im Ungers-Archiv versammelt. Fast alle zeigen Architekturmotive, viele mit Darstellungen antiker und mittelalterlicher Baukunst.

Ein besonderes Steckenpferd des Architekturtheoretikers Ungers war der Modellbau. Im Untergeschoss des Bürotraktes finden sich zahlreiche Modelle aus hochwertigem Alabastergips, die der Designer Bernd Grimm, der weiterhin im Archiv mitarbeitet, angefertigt hat. Hier finden sich Werke von Ungers, aber auch verschiedene Modelle architekturgeschichtlich bedeutsamer Bauwerke. „Für Ungers gab es die magischen drei: Cheops-Pyramide, Pantheon, Parthenon“, erläutert Sophia Ungers. „In diesen Bauten sah Ungers die Grundformen der Architektur archetypisch dargestellt: das Zelt, die Höhle, das Volumen.“

Ungers habe sich viel mit der Architekturgeschichte befasst, aber nicht in retrospektivem Sinne. „Sein Interesse reichte über alle Epochen, immer verbunden mit der Fragestellung, was wir für unser Bauen heute daraus lernen können“, berichtet Anja Sieber-Albers.

Nach dem Tod des einflussreichen Architekturdenkers und -lehrers im Jahr 2007 wurde das Büro Ungers sukzessive aufgelöst. Heute finden in der Belvederestraße 60 in Köln regelmäßig Veranstaltungen und Ausstellungen statt.

Außerdem nutzen Wissenschaftler und Architekturhistoriker aus aller Welt in hoher Frequenz den Nachlass des Architekten und die Bibliothek, die in der Qualität der Sammlung und der Werke nach Einschätzung der Kunsthistorikern Sophia Ungers „eine der besten weltweit“ ist.

Ungers-Stiftung

Im Jahr 1990 beschlossen Oswald Mathias und Liselotte Ungers, ihre in über 50 Jahren entstandene Bibliothek in eine Stiftung zu überführen. Den Grundstock bilden das Gebäude und die umfangreiche Büchersammlung.

Die Stiftung hat den Auftrag, dem Geist von O. M. und Liselotte Ungers entsprechend Aktivitäten zu planen und zu veranstalten. So wie O. M. Ungers Architektur als einen umfassenden Begriff verstanden hat, und dies durch seine Arbeit sowie das Sammeln von Kunstwerken, Modellen, Lite-ratur und Design vertieft hat, will das UAA diese Arbeit fortführen.

Das Ungers Archiv für Architekturwissenschaften ist in dem denkmalgeschützten „Haus Belvederestraße“ in Köln beheimatet, durch das der Architekt erstmals internationale Beachtung errang. Das Gebäude wurde 1989 durch den Bibliothekskubus ergänzt. Der über einen Zeitraum von mehr als 30 Jahren entstandene Ge-bäudekomplex veranschaulicht das Schaffen von Ungers von seinen „Sturm und Drang“-Anfängen in den 50er Jahren bis zu seiner radikalen Reduktion am Ende seiner Karriere.

Künftig sollen in dem Haus verstärkt monographische Ausstellungen in den Bereichen Architektur, Kunst und Design gezeigt werden, an die Symposien oder Vorträge gekoppelt sein können. Das Ziel der Stiftung, die sich bisher ausschließlich aus Spenden finanziert, ist es, Architektur nicht nur für Experten, sondern für eine interessierte Öffentlichkeit zugänglich zu machen. Im Januar 2011 wurde ein Freundeskreis gegründet, der die Arbeit der Stiftung fi-nanziell und als Netzwerk unterstützt.

Das UAA bietet regelmäßig Führungen durch das Haus an, wobei Besucher bei der Anmeldung gebeten werden, sich zu Gruppen von fünf bis zehn Teilnehmern zusammen zu finden.

Kontakt und Info: www.ungersarchiv.de
Info zum Gebäude: Haus Belvederestraße auf baukunst-nrw

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